Neulich hatten wir uns gezankt, meine Freundin Pie und ich. Ich fand, sie setze sich unnötigen Risiken aus, indem sie zu vielen Menschen hilft, zu viele Botengänge und Fahrten erledigt, zu viele kleine Pflegedienste leistet, wo sie doch selber zu den Gefährdeten gehört.
Es ist offenbar ein Naturgesetz, dass die am meisten geben, die selber ums Überleben kämpfen, sei es finanziell, emotional oder gesundheitlich. Vielleicht muss man Hilflosigkeit erlebt haben, um selbstverständlich Hilfe zu leisten.
«Und wenn du dich ansteckst?», jammerte ich.
«Das ist hier nicht die Frage», antwortete sie streng. «Die einzige Frage, die wir uns jetzt stellen können, ist die: Was habe ich anzubieten?»
Während ich das noch verarbeitete, rief eine andere Freundin an. Sie regte sich masslos darüber auf, dass alle Schwimmbäder in der Umgebung geschlossen waren. «Das kann doch nicht sein!», rief sie immer wieder. «Wie soll ich aufs Schwimmen verzichten? Ich brauche das!»
«Was du brauchst, ist hier nicht die Frage», sagte ich ungeduldig. «Die Frage ist, was du anzubieten hast.»
Und so lange das nur Gezeter ist, musst du mich auch gar nicht anrufen. Das sagte ich natürlich nicht laut. Und ich kletterte auch sehr schnell wieder von meinem hohen Ross herunter, denn die nächste logische Frage war: «Und was hast du denn anzubieten, Moser? Hmmm?» Meine Kernkompetenz, Geschichten zu erzählen, ist jetzt nicht von besonderem Nutzen. Victors Höchstgefährdung macht es mir nicht einfach, Botengänge für andere zu unternehmen. Ich verlasse das Haus nur, wenn es nicht anders geht. Klar, biete ich dann den Asthmatikerinnen und den über 90-Jährigen in meinem Umfeld an, für sie mit einzukaufen und Medikamente abzuholen. Besser als nichts, aber auch nicht gerade viel. Was also habe ich anzubieten?
Plötzlich erinnerte ich mich wieder an einen Nachmittag vor langer Zeit, in einem anderen Leben, in der Praxis einer Ehetherapeutin. Sie hatte uns gebeten, alles aufzuschreiben, was wir an uns selber schätzten. Und ich konnte es nicht. Es fiel mir beim besten Willen nichts ein. Gleichzeitig war mir bewusst, dass das nicht normal war. Nicht gesund sein konnte. So gar nichts an sich zu mögen. Das hat sich unterdessen geändert. Zum Glück. Aber jetzt dachte ich wieder an den Moment, in dem ich der besorgten Therapeutin mein Blatt zeigte, auf dem gerade ein Satz stand: «Ich bin eine gute Freundin.» Scham überflutete mich wie glühende Lava, ich rief die verhinderte Schwimmerin zurück und entschuldigte mich. «Wie geht es dir wirklich? Erzähl.» Und sie erzählte. Dass sie unter Polyarthritis leidet, wusste ich, nicht aber, dass sie in den letzten Jahren schmerzmittelabhängig geworden war. Obwohl sie die Medikamente strikt nach Rezept einnahm. Die Ärzte verschreiben viel zu viel hier, das ist unterdessen bekannt. Sie erzählte, wie hart sie gegen diese Abhängigkeit ankämpfte und wie sehr ihr das Schwimmen dabei geholfen hatte. «Ich bin froh, dass du angerufen hast. Ich war drauf und dran, meinen Arzt um ein neues Rezept zu bitten.»
«Ich bin auch froh», murmelte ich.
Was hast du anzubieten, Moser? Sei ein Mensch. Das wär ein Anfang …