Das Leben bleibt nicht einfach stehen. Auch wenn es sich so anfühlt. Auch wenn das Virus unser Denken und Fühlen beherrscht, unseren Alltag bestimmt. Doch selbst in diesen verwirrenden Zeiten verliebt man sich, geht man sich auf die Nerven, trennt man sich. Man bekommt Kinder, man bezahlt Rechnungen, man rutscht in der Dusche aus. Man wird unverhofft von einem alten Schulfreund angerufen, oder man erkältet sich.
Seit zwei Tagen habe ich Fieber – nicht hoch. Ich huste – nicht stark. Bis diese Kolumne erscheint, ist der Spuk bestimmt schon vorüber. Ich bin schon zu lange in der Quarantäne, um mich mit dem Coronavirus angesteckt zu haben. Ich war immer vorsichtig. Aber eben, erkälten kann man sich ja auch während einer Pandemie. Und für Victor kann auch eine Erkältung gefährlich sein. Ich habe schon zweimal erlebt, dass er mit einer Lungenentzündung im Notfall landete, als rund um ihn herum alle husteten. So bin ich nun also innerhalb der Quarantäne in Quarantäne gegangen. Ich habe mich im Gästezimmer eingeigelt und verhandle mit den Göttern. «Bitte nicht», sage ich. Wie durch ein gewaltiges, unverhofftes Wunder geht es Victor nämlich erstaunlich gut. Er erholt sich von seinen diversen Eingriffen und Komplikationen, sein Herz schlägt regelmässig, er fühlt sich «so gut wie zuletzt in den Neunzigerjahren!». Seit seinem letzten Besuch im Notfall sind mehr als drei Wochen vergangen, und er zeigt immer noch keine Symptome von Ansteckung mit Corona. Und das alles nur, um jetzt von mir eine Erkältung angehängt zu bekommen? Eine Erkältung, die sein unterdrücktes Immunsystem nicht abwehren kann? «Das könnt ihr nicht machen», flehe ich die Schicksalsmächte an, sicherheitshalber in der Mehrzahl. «Das ist nicht fair!» Dass das kein Argument ist, weiss ich natürlich. Fair oder nicht, das Leben bleibt nicht stehen, das Leben geht weiter. Bin ich die Einzige, die bei ihren Verhandlungen mit dem Schicksal in diesen kindlichen Quengelton verfällt? Es gäbe ohnehin nur drei Gebete, habe ich irgendwo mal gelesen: Bitte, danke, und wow! «Bitte», bettle ich. Beziehungsweise «bitte nicht!».
Und dann fällt mir etwas anderes ein. Noch ist unser Kühlschrank gut gefüllt, die Medikamentenschublade auch. Aber es wird wohl früher oder später der Moment kommen, in dem ich mir etwas ausdenken muss. «Warum gehst du für andere einkaufen?», wurde ich auch schon gefragt. «Eigentlich sollte doch jetzt jemand für euch einkaufen!» Mehrere Leserinnen und Leser haben mich nach meiner letzten Kolumne darauf hingewiesen, dass es schön und gut sei, Hilfe anzubieten, aber man müsse diese Hilfe ja auch annehmen können. Und oh, was habe ich mich ertappt gefühlt! Hilfe annehmen zu können, geschweige denn um Hilfe zu bitten, ist ungefähr das Schwierigste, was ich mir vorstellen kann. Das wird mir nicht zum ersten Mal bewusst. Und ich denke nicht zum ersten Mal darüber nach, warum mir das so schwerfällt. Nun, Ausnahmesituationen wie diese sind auf jeden Fall grossartige Lehrmeister.
Sicherheitshalber schaue ich noch mal nach oben zur Zimmerdecke, wo ich die Schicksalsmächte vermute. «Ist ja gut», sage ich. «Ich habs kapiert.»