Milena Moser
Vorsicht beim Wünschen!

Ich kann nicht anders, als immer wieder an diesen Spruch zu denken: Pass bloss auf, was du dir wünschst, denn es könnte ja am Ende noch in Erfüllung gehen! Nicht dass sich irgendjemand eine Pandemie gewünscht hätte, an der Millionen sterben, nein. Natürlich nicht.
Publiziert: 29.03.2020 um 11:16 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2020 um 11:48 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019
Milena Moser

Zeit. Mehr Zeit. Ausnahmslos alle, die ich kenne, und ich schliesse mich da mit ein, wünschten sich dasselbe. Wie oft habe ich das gehört, wie oft habe ich es selber gesagt: «Wenn ich nur mehr Zeit für mich hätte! Ach, ich wünschte mir, ich könnte mehr Zeit mit meiner Familie verbringen. Ich bin nie zu Hause. Ständig auf dem Sprung, hierhin, dorthin. Dieses Gehetze die ganze Zeit. Alles bleibt liegen. Mein Kalender ist bis Ende 2023 voller Termine. Ich träume von einer leeren Agenda. Ich träume von meinem Bett. Schlafen! Träumen! Nichtstun! Ich möchte mal wieder einfach nichts vorhaben. Ich möchte mich langweilen! Ich sage dir, wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mein Badezimmer neu streichen, hellgrün oder türkis. Wenn ich Zeit hätte, würde ich ein Buch schreiben … Was? Hey, nein! Hallo! So hab ich’s nicht gemeint!»

Vorsicht beim Wünschen.

Schon klar: Das sind Luxusgedanken. Die man sich nur machen kann, wenn man auch ein Zuhause hat, in dem man theoretisch gern mehr Zeit verbringen würde, aber nicht auf Befehl. Eine Familie, die man über alles liebt und die einem doch gnadenlos auf die Nerven geht – und überhaupt, ein Badezimmer für fünf Personen. Was haben wir uns dabei gedacht? Man muss auch erst einmal einen Job haben, um den man jetzt fürchten kann, ein Einkommen, das jetzt bachab geht. Das ist alles nicht selbstverständlich. Nicht für alle und nicht überall. Selbst unsere Ängste sind im Grunde ein Privileg, denn Angst haben heisst, etwas verlieren zu können. Nichts mehr verlieren zu können, ist nicht die Definition von Freiheit, sorry, Janis Joplin, da bin ich nicht einverstanden. Nichts mehr verlieren zu können, ist das Ende der Hoffnung.

Das ist mir sehr bewusst. Und dieses Bewusstsein hält meine eigenen Anfälle von Panik und Verzweiflung in erstaunlich aushaltbaren Grenzen. «Früher hast du dich wegen sehr viel weniger sehr viel mehr aufgeregt», stellte mein Sohn kürzlich fest.

Hm. Ich schwieg einen Moment erstaunt und dachte nach. «Stimmt», sagte ich dann. Früher trieben mich alltägliche Herausforderungen, die anderen null Mühe zu bereiten schienen, regelmässig zur Verzweiflung. Und jetzt, während um mich herum die Nerven blank liegen, bleibe ich relativ gelassen. Unter diesem Druck funktioniere ich ganz gut. Vielleicht, weil ich das Überleben von Verlusten schon mal üben durfte? Weil mich das Leben mit einem schwer kranken, aber unheilbar fröhlichen Mann gelehrt hat, dass das Glück oft in den Abgründen aufleuchtet, sich im freien Fall entfaltet? Weil ich es bereits aufgegeben habe, etwas kontrollieren zu wollen?

Oder liegt es etwa daran, dass selbst eine inoffizielle Weltmeisterin im Sich-schuldig-Fühlen (wie ich) diese Pandemie nicht persönlich nehmen kann? Was jetzt passiert, im Kleinen wie im Grossen, hat nichts mit mir zu tun. Es passiert einfach. Es entzieht sich meiner Kontrolle. Die Energie, die ich früher darauf verschwendet hätte, mich zu zerfleischen und zu hinterfragen, setze ich heute sinnvoller ein. Was genau das ist, was ich mir immer gewünscht habe. Aber hey, hallo! Nein! So hab ich’s nicht gemeint!

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