Vor 80 Jahren stand die Welt in Flammen. Das Schicksal Europas hing an einem dünnen Faden. In Italien tobte der Kampf zwischen den Alliierten und der deutschen Wehrmacht. Am Monte Cassino, zwischen Rom und Neapel, kämpften britische, neuseeländische und indische Truppen gegen 20 deutsche Divisionen. Die Verluste waren fürchterlich. Von 250’000 alliierten Soldaten waren im Mai, als die Winterlinie durchbrochen und der Weg nach Rom schliesslich freigekämpft war, mehr als ein Fünftel, 50’000 Mann, tot oder verwundet.
In der Nacht vom 30. auf den 31. März 1944 bombardierte ein britisches Geschwader die Stadt Nürnberg (D). Von 795 Maschinen kehrten 94 nicht zurück. Jeder Flieger hatte eine Besatzung von sieben Mann. Innerhalb einer Stunde starben 545 der Männer. Es war der grösste Ausfall bei einem einzigen Kommando seit Beginn des Krieges.
Nein, in jenen Tagen vor 80 Jahren war der Sieg der Freiheit und das Ende des Krieges nicht in Sicht, beides war ein schwaches, ein flackerndes Licht, das jeden Moment ausgehen konnte.
Uns Nachgeborenen, die wir den Lauf der Geschichte kennen, scheinen die Ereignisse des Jahres 1944 fast zwangsläufig auf den Mai 1945 hinzuführen, auf den Tag der endgültigen Befreiung, der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 4. Mai 1945, abends um halb sieben in Feldmarschall Montgomerys Zelt auf der Lüneburger Heide. Aber zwangsläufig oder selbstverständlich war nichts daran. Das letzte Jahr war das blutigste des ganzen Krieges. Die Nazis hatten längst nicht aufgegeben, sie mordeten, plünderten, zerstörten.
Im März 1944 besetzten sie Ungarn und begannen unmittelbar mit den Deportationen der jüdischen Bevölkerung nach Auschwitz. 424’000 Menschen wurden in 56 Tagen ermordet, bis zum Kriegsende sollten dem Terror in Ungarn mehr als eine halbe Million Jüdinnen und Juden zum Opfer fallen.
Vor 80 Jahren warfen Hitler und seine Generäle alles ins Feuer, Menschen und Material, unterschiedslos.
Es heisst, die dunkelste Stunde sei jene vor Tagesanbruch. Vor 80 Jahren wusste niemand, ob und wann über Europa und der Welt je wieder der Tag anbrechen würde. Aber man wusste sehr deutlich, wer diese Frage beantworten musste, an wem es lag, das Licht zu bringen.
Mehr Essays von Lukas Bärfuss
Wir Menschen des 21. Jahrhunderts leben, weil damals Menschen ihre Aufgabe angenommen haben. Es ist ihr Opfer, das in Westeuropa drei Generationen ein Leben in Freiheit ermöglicht hat. Und es waren nicht allein die Waffen, nicht die überlegene Taktik, die schliesslich die Entscheidung brachte. Es war der Wille zur Freiheit, die Einsicht, dass es Werte und Ideale gibt, die wichtiger sind als das eigene Leben.
80 Jahre später stehen wir in der Kontinuität dieser Ereignisse. Im April 1944 landeten sowjetische Truppen auf der Krim, zerschlugen die Heeresgruppe Mitte und besetzten bis im Mai 1944 fast die gesamte Ukraine. Für die Bevölkerung war dies keine Befreiung. Die Unterdrücker trugen bloss andere Uniformen.
Heute, in dieser Stunde, kämpfen in der Ukraine Frauen und Männer um diese Freiheit, um die Macht, frei und selbstbestimmt über das eigene Leben zu bestimmen. Seit fast 800 Tagen führen sie das Erbe jener Generation fort, die vor 80 Jahren Europa vom Faschismus befreit hat, als auch uns, wo immer wir leben, am Tiber, am Rhein, an der Donau oder der Weichsel.
Und wie damals lag es nicht an ihnen, über das Ende des Krieges zu bestimmen. Sie mochten vom Frieden träumen, aber dazu mussten sie zuerst die nächste Schlacht gewinnen. Diese Menschen hatten nicht das Privileg, Aufwand und Ertrag abzuwägen. Sie hatten keine Möglichkeit, Kompromisse einzugehen. Die Auseinandersetzung, die sie führten, war eine auf Freiheit oder Sklaverei, auf Leben und Tod.
Es war der Fanatismus, die Menschenverachtung, die Grausamkeit ihrer Feinde, die ihnen den Weg zeigte. Sie hatten vor Augen, was eine Niederlage bedeuten würde. Die Menschen, die Europa befreiten, haben nicht gefragt, wie sinnvoll ihr Opfer war. Sie wussten es. Sie sahen die Verwüstungen, die Verheerungen des Faschismus.
Heute leben wir in einer fast vollständig medialisierten Wirklichkeit. Wir können uns in jeder Sekunde davon überzeugen, zu welchen abscheulichen Verbrechen die russische Armee bereit ist, jeden Tag, in dieser Stunde, in diesen Minuten.
Wir wissen es, und doch verschliessen viele die Augen. Sie relativieren, sie fragen sich, mit welcher Taktik sie ihr bequemes Leben so lange wie möglich aufrechterhalten können. Zu viele vergessen, was den Menschen in der Ukraine jeden Tag mit aller Grausamkeit in Erinnerung gerufen wird. Und zu wenige fragen sich, wie wir ihren Kampf um unsere Freiheit mit aller Kraft unterstützen können.
Wenn wir die Geschichte des Jahres 1944 studieren, dann lernen wir: Im Widerstand gegen den Totalitarismus braucht es alle Kräfte. Der Kampf um Rom band die deutschen Truppen. Kesselrings Divisionen fehlten in der Normandie. Die französische Resistance, obwohl klein an Zahl, ermöglichte mit ihren Sabotageaktionen den Vormarsch der alliierten Truppen. Und sie schuf mit ihrem selbstlosen Opfer den ethischen, den moralischen Kern, auf den die Republik sich nach 1945 beziehen konnte. Dasselbe gilt für den Widerstand in Deutschland. Ihr Vorbild war es, das den kommenden Generationen das Fundament gab und die Richtung zeigte.
Wir Nachgeborenen haben kein Recht, unsere Privilegien als gegeben zu betrachten. Nicht unsere Sicherheit, nicht unsere Freiheit. Wir müssen darum kämpfen. Jeden Tag, auch heute. Die Sache der Freiheit duldet keinen Aufschub, keine Zögerlichkeit, keine Bequemlichkeit.
Wir haben kein Recht, feige zu sein, kleinmütig, nur weil die Aufgabe gross ist und wir von der Angst überwältigt werden. Wir haben kein Recht, unsere Augen zu verschliessen vor der Tatsache, mit welchem Regime wir es zu tun haben, welche mörderische Ideologie im Kreml zu Hause ist. Sie will jede Stimme, die sich ihr entgegensetzt, zum Verstummen bringen, einerlei, wie leise sie ist, einerlei, an welchem Ort sie ihr Flüstern wagt. In Europa sollten wir nicht hoffen, dass uns die USA auch weiterhin die Kohlen aus dem Feuer holen. Im kommenden November gibt es womöglich ein böses Erwachen.
Es sind die Toten, die eine Gemeinschaft bilden. In diesen Tagen und Stunden haben wir Gelegenheit, ihrer zu gedenken, uns an ihren Kampf zu erinnern, ihnen für das Opfer zu danken und uns zu fragen, was wir ihnen schulden. Es darf nicht sein, dass ihr Heldentum zu einem toten Schaubild wird, zu einem verstaubten Modell in einem Museum, zu einer faden Lektion im Geschichtsunterricht. Wir müssen ihr Erbe annehmen, leben und niemals vergessen, dass der Preis der Freiheit das eigene Leben ist.