Lukas Bärfuss über Solarenergie und geheime Abstimmungen
Das Jahrhundert der Sonne

In mehreren Schweizer Berggemeinden wurde über Solaranlagen abgestimmt. Essayist Lukas Bärfuss plädiert für Sonnenpaneele auf jedem Haus, weil Solarenergie eine gesellschaftliche, keine persönliche Notwendigkeit ist.
Publiziert: 10.02.2024 um 19:18 Uhr
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Aktualisiert: 12.04.2024 um 12:56 Uhr
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«Das einundzwanzigste Jahrhundert muss das Jahrhundert der Sonne werden», schreibt Autor Lukas Bärfuss.
Foto: Getty Images/Westend61
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Lukas BärfussSchriftsteller

Das 21. Jahrhundert muss das Jahrhundert der Sonne werden. Wenn wir weiter Öl verbrennen, wird unsere Zivilisation untergehen. Das ist Common Sense. Alle wissen es. Nicht alle haben verstanden, was es bedeutet, und es wird dauern, bis es jeder begriffen hat und danach handelt. Wir haben alles zu gewinnen: Die Energie des Sonnenlichts ist zweihundertmal grösser als unser aktueller Verbrauch. Ein Segen, aber die aktuelle Debatte reproduziert vor allem die Probleme von gestern.

In mehr als dreissig Schweizer Gemeinden wurde in den vergangenen Wochen und Monaten über Solaranlagen abgestimmt. Im bündnerischen Laax, im Walliser Grengiols und im schönen Adelboden im Berner Oberland wurden die Vorlagen angenommen. Es kann also gebaut werden. In Saanen allerdings wurde eine Vorlage abgelehnt, dasselbe bei einer Abstimmung über zwei Grossprojekte im Kanton Graubünden. Bald steht eine Weichenstellung in Oberiberg im Kanton Schwyz an.

In den Städten kratzt man sich die frisierten Köpfe, wie man die zerzausten Starrköpfe in den Bergen zu ihrem Glück zwingen könnte. Man erkennt koloniale Reflexe: Die Wilden in den Bergen haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Wir müssen dem Alpöhi Mores lehren!

Ein Problem hat man ausgemacht und pflegt es mit Sorgfalt. Es sind die geheimen Abstimmungen. Offene an Gemeindeversammlungen, so sagt die Politologie, versprechen die gewünschte Zustimmung.

Wir kennen dieses Problem: Alle brauchen Strom, keiner will sehen, wie er gemacht wird. Keiner will den Meiler vor dem Einfamilienhaus. Keiner will die Windturbine in der Aussicht. Wer lässt sich freiwillig seine Landschaft verbauen? Wer will die schöne Aussicht verderben mit hässlichen Paneelen? Diesen Kelch lässt man gerne an sich vorbeigehen. Geheime Abstimmungen helfen dabei. Das ist verständlich, aber unsolidarisch und unvernünftig.

Geheime Abstimmungen wurden aus redlichen Gründen eingeführt. Sie sollten die Bürger immunisieren gehen Bestechung, Korruption und Einschüchterung. Das sind reale Gefahren, immer noch. Politische Gewalt, körperlich und verbal, bleibt in einer Demokratie eine ständige Bedrohung. In einer geheimen Abstimmung, so die Theorie, entscheiden die Bürgerinnen und Bürger souverän und frei. Sie lassen sich nicht unter Druck setzen, niemand kann sie kontrollieren, nicht der Mächtige, nicht das soziale Umfeld, das Konformismus erwartet.

Die Zahlen scheinen diese Idee zu bestätigen. Die Beteiligung an den offenen Gemeindeversammlungen ist niedrig. Nur jene, die annehmen, in der Mehrheit zu sein, gehen zur Abstimmung. Wer begibt sich sehenden Auges in eine Niederlage? Wer erklärt gerne, warum er Nein sagt, wenn alle Ja sagen? Soziale Ausgrenzung durch eine abweichende politische Haltung, die Scham, die damit verbunden ist. Alles Folgen der offenen Abstimmung.

Geheime Abstimmungen galten als Goldstandard der Demokratie. Niemand kann den Bürger für seine Entscheidung zur Verantwortung ziehen. Er kann öffentlich behaupten, Ja zu sagen. Und im Geheimen doch Nein stimmen.

Und genau deshalb sind sie seit jeher umstritten. Im England des neunzehnten Jahrhunderts hielt man sie passend für verlogene, durchtriebene und hinterhältige Nationen. In England, wo Ehrlichkeit, Unabhängigkeit und Edelmut regiere, könne jeder Bürger frei zu seiner Meinung stehen und sie offen kundtun. Keine falsche Diagnose, wenn man auf die geheime und fatale Abstimmung über den Brexit schaut. Hier wäre etwas sozialer Druck nicht schädlich gewesen. Rule, Britannia!

Offene Abstimmungen folgen dem Ideal, dass am Ende die besseren Argumente und damit das Gemeinwohl siegen werden. In einer deliberativen Demokratie hören die Menschen zu, denken nach und ändern nötigenfalls die bisherige Meinung.

Geheime Abstimmungen folgen einem pragmatischen Gedanken. Aus vielen Stimmen soll sich das Gemeinwohl bilden, in einem akkumulativen Prozess.

Beide Vorstellungen liegen richtig, und beide liegen falsch.

Niemand kann ewig diskutieren. Irgendwann muss mit dem Palaver Schluss sein und entschieden werden. Deshalb ist das deliberative Modell mit der offenen Abstimmung zwar schön, scheitert aber an der Wirklichkeit. Und die geheime Abstimmung ist vielleicht souverän, führt aber häufig zu unvernünftigen, der Gesellschaft schädlichen Entscheidungen. Aus Eigensucht stellen wir das eigene über das Gemeinwohl. Solarenergie allerdings ist eine gesellschaftliche, keine persönliche Notwendigkeit. Der Einzelne profitiert von ihrem Nutzen nur indirekt.

Was sollen wir also tun, wenn wir wissen, was zu tun wäre, aber niemand bereit ist, dafür einzustehen? Sind die demokratischen Prozesse tauglich, um die anstehende Transformation konstruktiv zu bewältigen? Denn sie wird kommen, unausweichlich, die Frage ist bloss, wie wir sie gestalten.

Statt uns auf fehlerhafte Verfahren zu versteifen, sollten wir bessere Vorlagen entwickeln. Heute kranken sie an der Glaubwürdigkeit ihrer Verfasser. Nicht die Bürgerinnen, die Strombarone und Strombaroninnen bestimmen, wie die Projekte aussehen. Die Menschen in den Standortgemeinden sind argwöhnisch. Sie fragen sich, was für sie dabei abfällt.

Der Bau von Grossanlagen geht von einer Vorstellung aus, die aus dem Petrozän stammt. Bei Atom- und Kohlemeilern strebt der Produzent Grösse und negative Skalierung an. Je grösser das Kraftwerk, umso kleiner die Gewinnungskosten pro Kilowattstunde. Energie wird zentral produziert.

Sonnenenergie ist nicht skalierbar. Sie hängt von der geografischen Zone, der Topografie, der Jahreszeit und der Witterung ab. In diesem Rahmen verteilt sie die Karten an alle Mitspielenden gleich. Hier ist Dezentralisierung das Mittel der Wahl. Auf jedem Dach ein Sonnenpaneel. Überschüsse und Mangellagen werden solidarisch und kollektiv bewältigt. Jedes Haus, jedes Gebäude ein semi-autonomes Kraftwerk, interdependent, durch ein intelligentes Netz verbunden mit den anderen Produktionsanlagen und mit den wenigen Grosskraftwerken, die in den Mangellagen anspringen. So sieht die Energieversorgung der Zukunft aus.

Die urbane Arroganz ist dumm: Gebäude sind für fast die Hälfte des Energieverbrauchs zuständig – gleichzeitig liegt hier das grösste Produktionspotenzial: auf Dächern, an Fassaden und Parkplätzen.

Die Schweiz ringt um technologische und politische Lösungen. Probleme bei den Lieferketten, zu wenig Fachkräfte: Wir entwickeln uns nicht schnell genug. Spanien, Deutschland, die Niederlande, Griechenland, Ungarn, Italien decken im Durchschnitt die doppelte Menge ihres Stromverbrauchs durch Photovoltaik. Die Solarwärme ist ein veritables Sorgenkind, obwohl sie ein wichtiger Teil der Lösung sein müsste. Warum zuerst Strom produzieren, wenn wir direkt mit Sonnenwärme heizen können? Leider nehmen die Zahlen ab: Zehnmal weniger gebaute Kollektoren als vor zehn Jahren, selbst die jährliche Produktion ist mittlerweile rückläufig.

Es gibt viel zu tun. Pflege und Ausbau des Stadt-Land-Grabens bringen uns nicht weiter. Die Energiewende ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Schaden und Nutzen sollen gerecht verteilt werden. Die Sonne geht jeden Morgen auf, und bis sie abends wieder untergeht, scheint sie überall, unterschiedslos, auf Haus und Hof, auf Jung und Alt, auf Stadt und Land. Sali, Sali, d Sunne schiint für alli.

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