Domine conservare nos in pacem, Herr bewahre uns in Frieden, steht als steinerne Inschrift an der Fassade des Schweizerischen Nationalmuseums in Zürich. Doch auch in der Eidgenossenschaft schützt kein Gott vor dem Schicksal. Auch hier trifft es die Menschen unerwartet, mit aller Härte, schuldlos und unvorbereitet. Vernünftiger ist es, auf die gesellschaftliche Solidarität zu setzen und das Risiko zu mildern mit einer Sozialversicherung, mit der Alters- und Hinterbliebenenversicherung, der AHV.
So dachte auch Max Beeler. Er war 41, als er seine Frau verlor. Ein Unfall. Der Vater war allein mit zwei kleinen Kindern. Die drei lebten von der AHV. So ging es schlecht und recht. Die Kinder wurden gross. Als die jüngere Tochter 18 wurde, erhielt die Familie Post. Es war die Ausgleichskasse. Mit lustig sei nun Schluss, und Schluss sei auch mit Rente. Jetzt schon?, fragte Herr Beeler, ich dachte, ich würde sie lebenslang erhalten. Würdest du, meinte die Kasse, wenn du eine Frau wärst. Bist du aber nicht. Herr Beeler, jetzt hast du leider Pech gehabt.
Das fand Max Beeler ungerecht. Stand nicht in der hochheiligen Bundesverfassung, Mann und Frau seien einander gleichgestellt?
Max Beeler legte Beschwerde ein. Papperlapapp, antwortete die Ausgleichskasse, was kümmert uns die Verfassung, hast du das Sozialversicherungsgesetz nicht gelesen?
Max Beeler blieb dabei und zog den Fall ans Obergericht. Es stützte die Haltung der Ausgleichskasse, und so musste Herr Beeler mit seiner Sache nach Lausanne, ans Bundesgericht. Und wie lautete das Urteil der ehrenwerten, der höchsten Richter? Lieber Herr Beeler! Sie haben recht! Dieses Gesetz ist ungerecht, es verstösst gegen die Verfassung. Sie wissen es. Wir wissen es. Alle wissen es. Etwas daran ändern? Das kann leider niemand. Ihre Klage weisen wir deshalb ab.
Und so lernte Max Beeler: In der Schweiz gibt es keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier kann das Parlament Gesetze erlassen, die gegen die Verfassung verstossen, und niemand, nicht einmal das höchste Gericht, kann etwas dagegen tun.
Max Beeler wollte das nicht hinnehmen. Er war jetzt Ende 50 und trug seinen Fall nach Strassburg, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Unglaublich! Max Beeler klagte gegen die Eidgenossenschaft! Noch unglaublicher: Max Beeler bekam recht, sogar zweimal, vor der Kleinen und vor der Grossen Kammer. Die Ungleichbehandlung der Geschlechter, so hiess es im Urteil, sei ein Verstoss gegen die Menschenrechte. Bleiben könne das nicht. Die Eidgenossenschaft müsse Herrn Beeler entschädigen und das Gesetz ändern.
Das tat weh. Die Eidgenossenschaft, der Schweizerische Bundesrat als ihre oberste Behörde, war düpiert. Eine Frechheit. Ein Witwer, ein Vater, ein Bürger wagt es, uns, die Eidgenossenschaft, den Bundesrat, vor ein Gericht zu ziehen, und dazu ein fremdes? Ungeheuerlich! Wenn das jeder machen würde!
Ein finanzielles Problem war das nicht: Nur zwölf Millionen Schweizer Franken kostete es jährlich, auch den verwitweten Männern eine lebenslange Rente zu bezahlen. Ein Pappenstiel. Ein Problem war es hingegen prinzipiell. Wenn jeder auf die Idee käme und nach Strassburg ziehen würde! Das konnte die Eidgenossenschaft nicht dulden. Und sann auf Rache, auf ein Exempel, das zu statuieren war.
Diesem Beeler und allen anderen Querulanten der Gerechtigkeit würde man Mores lehren. Über die Ungleichheit jammert er? Sie sei ungerecht? Soll er Gleichheit haben! Warum den Männern eine Rente geben, wenn wir den Frauen eine Rente nehmen können? Wir schicken ein Gesetz in die Vernehmlassung, das ratzputz allen die Rente streicht. Dann hat der Beeler seine Gleichheit, dann geht es allen gleich schlecht. Und wenn niemand eine Rente bekommt, kann niemand gegen die Ungleichheit klagen. Ätsch!
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So lachte sich der Bundesrat ins Fäustchen, und das Schöne war, dass in diesem Fäustchen viel Geld steckte. Fast eine Milliarde Franken bis ins Jahr 2040. Das war die Summe, die man den Hinterbliebenen klauen wollte. Das habt ihr davon, ihr Witwer und Witwen! Bedankt euch bei eurem Freund, dem Herrn Max Beeler!
Der musste lernen: Aus einem erfolgreichen Kläger für die Gerechtigkeit hatte der Bundesrat einen nützlichen Idioten für den Sozialabbau gemacht.
Das war hässlich, und wie jede hässliche Tat wollte auch diese versteckt sein hinter hübschen Worten. Der Bundesrat schickte das Gesetz in die Vernehmlassung und legte einen «erläuternden Bericht» bei. Der erläuterte nichts, erklärte nichts, im Gegenteil, er war ein Dokument der Hinterlist, der Täuschung, der Boshaftigkeit.
Man beklaue niemanden, stand da, im Gegenteil: Man müsse den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen. Heute lebe man in Patchwork und Konkubinat, das alte Gesetz aber begünstige nur Eheleute. Das sei alter Zopf, und es sei ungerecht. Progressiv und emanzipiert, so flötete der Bundesrat, so wolle man das neue Gesetz. Das war aber nur die halbe Wahrheit, und deshalb war es eine ganze Lüge, das gestand sogar der Bericht ein, kleinlaut, weit hinten auf Seite 36. Denn diese Änderung «wird nur relativ geringe Mehrausgaben verursachen, weil mit wenigen Fällen zu rechnen ist. Zwischen 2016 und 2020 gab es in der Schweiz im Jahresdurchschnitt nur 123 Todesfälle von unverheirateten Eltern, deren jüngstes Kind unter 25 Jahre alt war.»
Ha! Doppelt listig, doppelt durchtrieben! Wir geben mit dem Kaffeelöffel und nehmen mit der Baggerschaufel.
Und die Betroffenen, die Witwen und die Witwer in Not? Stand nicht auch im Urteil aus Strassburg, wie schwer es für sie sei, nach Jahrzehnten der Familienarbeit wieder Fuss zu fassen in der Wirtschaft? Tja, der Bundesrat erklärte, wie diese Bedürftigen die fehlende Rente kompensieren sollten: nämlich über andere «soziale Transferleistungen, namentlich Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe».
Dreimal fies und Entendreck! Das Gesetz entzog bedürftigen Menschen den Versicherungsschutz und schickte sie in die Sozialhilfe. Das habt ihr nun davon, die Eidgenossenschaft zu verpfeifen! In Strassburg! Es soll euch eine Lehre sein!
Und so aufgeblasen vor Genugtuung, so aufgegeilt von den Rachegefühlen kannte der Bundesrat keine Grenzen in seiner Täuschung. Das Hauptziel dieser Vorlage? Das Urteil aus Strassburg umsetzen natürlich! So stand es zuvorderst im Bericht, so stand es zuvorderst in der Pressemeldung. Aber die Richter in Strassburg kannten ihre Pappenheimer und hatten vorgesorgt. Sie betonten ausdrücklich, dass dieses Urteil «nicht als Ermutigung für die Schweizer Regierung zu verstehen ist, die betreffende Rente für Frauen zu streichen oder zu reduzieren, um die festgestellte Ungleichbehandlung zu korrigieren».
Das war blöd, und der Bundesrat wollte nicht, dass dies die Runde machte. Und deshalb verschwieg er es. Kein Wort davon in seinem Bericht, nicht einmal jenseits der Seite 36. Zu befürchten war nicht viel: Wer liest hierzulande schon Gerichtsurteile, vor allem, wenn sie aus Strassburg kommen?
Aber war das Weglassen nicht eine vorsätzliche Täuschung der Bürgerinnen und der Bürger? Verkehrte der Bundesrat mit dieser Revision das Urteil nicht genau ins Gegenteil? Und war das nicht ein Verstoss gegen Artikel 5 der Bundesverfassung, der die Regierung auf Treu und Glauben verpflichtet? Und fürchtete der Bundesrat nicht den Artikel 312 des Strafgesetzbuchs, der Mitglieder einer Behörde mit Freiheitsstrafe bis fünf Jahre bedroht, wenn «sie ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen»?
Das alles war dem Bundesrat einerlei. Dem Eidgenössischen Departement des Innern war es einerlei, dem sozialdemokratischen Vorsteher Alain Berset war es so schnurzpiepegal wie seiner Nachfolgerin und Parteifreundin Elisabeth Baume-Schneider. Und auch im Bundesamt für Sozialversicherungen riskierte man eine Rechtsbeugung, pfiff man auf Anstand und Gesetz, der Direktor und Sozialdemokrat Stéphane Rossini ebenso wie Colette Nova, seine Vizedirektorin und zuständig für die AHV.
Und so lernte Max Beeler die Mär von der Geschicht':
Verlass dich in der Schweiz auf die Regierung nicht,
glaub der Zürcher Inschrift und in deiner Not
vertrau' alleine auf den lieben Gott.