Lukas Bärfuss über das Bundesbudget
Der dicke Onkel

Während einige wenige in der Schweiz unfassbar reich werden, steht es schlecht um die Bundeskasse. Für Essayist Lukas Bärfuss sind die Vermögenden wie ein dicker Onkel, der sich in der Bäckerei frech bedient – und dem niemand die Stirn bietet.
Publiziert: 16.03.2024 um 18:10 Uhr
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Aktualisiert: 16.03.2024 um 18:17 Uhr
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Lukas Bärfuss vergleicht die Schweizer Wirtschaft mit einer Bäckerei. Das Geschäft läuft gut, aber ...
Foto: Getty Images
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Lukas BärfussSchriftsteller

In meiner Bäckerei bin ich seit 20 Jahren Kunde. Die Brötchen sind frisch. Gipfel, Zöpfe, Torten: tadellos. Hinter dem Tresen stets ein Lächeln, ein Grüezi und ein Ufwiederluege. Die Preise korrekt. Das Angebot abwechslungsreich. Die Fasnachtschüechli und die Grittibänze ergänzen pünktlich das Sortiment. Ja, ich darf sagen: In diese Bäckerei gehe ich sehr gerne! 

Der erste Dank geht an die Angestellten. Von der Produktion über die Administration und den Verkauf arbeiten sie sorgfältig, gewissenhaft und pünktlich. Sie erbringen ihre aussergewöhnliche Leistung jeden Tag. Der Ehrgeiz lässt nicht nach. Sie begnügen sich nicht mit dem Erreichten. Heute findet man in der Auslage weniger Schinkenbrote. Dafür gibt es vegane Delikatessen. Und den Kaffee to go kann man sich wie einst mit Kuhmilch verfeinern, heute auch mit Soja und mit Hafer. 

Die Bäckerei ist vorbildlich und steht als Modell für die Schweizer Wirtschaft. Sorgfalt und Liebe zur Arbeit haben sie erfolgreich und beliebt gemacht. Der Erfolg ist messbar.

Die Zahlen beweisen es. Jedes Jahr wirtschaften wir besser. Unsere Einkünfte steigen. Wir steigern das Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Erhöhen die Produktivität deutlich. Konkurrenz brauchen wir mit diesem Arbeitsethos nicht zu fürchten. Wir nehmen es mit der ganzen Welt auf. 

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«Und wie ging das mit dem fettleibigen Onkel von der UBS und dem Spritzgebäck aus dem CS-Verkauf: 30 Milliarden, von der Bäckermeisterin Karin persönlich dekoriert.»
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Trotzdem fehlt das Geld in der Kasse der schweizerischen Bundesbäckerei. Notorisch. Als würde sich jemand ohne Bezahlung in der Auslage, an den Nussgipfeln und den Schwedentorten bedienen. Oder gleich in die Schublade greifen. Wie kann das sein? Wo geht die Kohle hin? 

Zu den Angestellten nicht. Sie leiden. Sie werden ärmer. Wer Familie hat, der hat in der Schweiz ein Problem. Selbst mit einer Ausbildung reichen zwei Einkommen nur knapp bis ans Monatsende.

Wenn die Angestellten die Kohle nicht haben, wer hat sie dann? Die Bäckersfrau, die Meisterin? Karin Keller-Sutter will davon nichts wissen. Sie lässt nicht einmal die Frage zu. Aber sie kennt eine Lösung: Wenn Geld fehlt, muss die Bundesbäckerei sparen. 

Die Budgetberatung fürs Jahr 2024 im eidgenössischen Parlament war ein Graus. Schlimm. Nichts für schwache Nerven. Bei der Lektüre der Ratsprotokolle ist man froh um eine Cremeschnitte. Aber so furchtbar die Gegenwart erscheinen mag, die Zukunft wird noch schlimmer. Die Aussichten sind grässlich. Fürchterlich. Strukturelles Defizit. Ausgabenkürzungen. Sparbremse einlegen. Gürtel enger. In der Bildung Hungerkur. So lautet die Rezeptur. 

Die Finanzierung der AHV nach 2030 ungesichert. Dazu das internationale Umfeld. Apokalyptisch. Die Bäckermeisterin Keller-Sutter im O-Ton, etwas gekürzt: «Besorgniserregende Entwicklungen. Zinsen steigen, die Kredite sind nicht finanziert. In der Wirtschaft wurden Finanzierungen getätigt, die nicht nachhaltig sind – China lässt grüssen. Verschuldung nimmt zu.» Aua.

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«Unterschätzen darf man den dicken Onkel nicht. Er steht mit der Bäckermeisterin auf gutem Fuss.»
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Die nationale Backstube, das Parlament, zieht die mehl- und teigverklebten Köpfe ein. Die Grünen kleinlaut: Was schaut ihr uns an? Die Nationalisten ruppig: Sauerei! Staatsquote drücken, linke Verwaltung ausmisten, keine Ausländer füttern, Schluss! Die Liberalen und die Mitte einlullend: Vorsicht, bitte. Nicht überborden, nur ruhig, das bekommen wir hin. Vernunft bewahren. In einen Nussgipfel beissen! Weitermachen, keine blöden Fragen stellen. Die Linke: Mault kleinlaut, tut in einer Ecke gütlich mit dem Bruch und putzt sich die Resten vom Mund ab. 

Nun weiss man aber: Abends, nach Ladenschluss, erscheint in der Bäckerei ein Onkel. Er kriegt einen schönen Teil der Tageseinnahmen. Für die Bundesbäckerei lautet der genaue Betrag im Jahrzehnt zwischen 2010 bis 2020: 399’053’000’000. 

Diese 400 Milliarden Schweizer Franken sind der Zuwachs in der Kategorie 11 in der «Gesamtschweizerischen Vermögensstatistik der natürlichen Personen» der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Das durchschnittliche Vermögen in dieser Kategorie beträgt 39 Millionen Franken. Nur ein halbes Prozent der Steuerpflichtigen darf sich dazu zählen, zu den dicken Onkels. Ihren Anteil an allen Vermögen haben sie in jenen zehn Jahren um acht Prozent gesteigert. Von 100 Nussgipfeln frisst der Onkel jetzt 34. Er war schon dick, jetzt ist er fett geworden, der Onkel.

Aber warum lässt man ihn die Nussgipfel und die Caracs verschnabulieren? Das ist ungesund und ungerecht! Antwort O-Ton Bäckermeisterin, ungekürzt: «Vor das Volk zu treten und zu sagen, dass wir ein Ausgabenproblem haben, dass aber bitte doch jetzt die Steuern erhöht werden sollen – und das notabene in einem Umfeld, in dem die Krankenkassenprämien steigen, die Mieten steigen, in dem wir auch eine gewisse Inflation haben–, ist sicherlich nicht vertretbar.»

Stimmt. Das ist nicht vertretbar. Weil es kein Ausgabenproblem gibt. Und nur drei Prozent des sogenannten Volks zu den dicken Onkels gehören, denen man ruhig ein paar Schlossbergkugeln weniger in den Rachen stopfen könnte. Und jedes Jahr kommt mehr Gebäck dazu. Der Onkel verlangt immer mehr Spitzbuben und Donuts. Der Onkel ist unersättlich. Bald lässt ihn die Bäckermeisterin ungestört ein Viertel aller Cremeschnitten, Gipfeli und Spanischbrötli verschlingen.

Und die Angestellten? Sind fleissig, pünktlich, sorgfältig und duldsam. Sie widersprechen der Bäckermeisterin nur selten. Zuletzt scheinen sie den Mut gelernt zu haben. Fast 60 Prozent haben vor zwei Wochen dem Onkel ein paar trockene Fitnessbrötchen vom Vortag, eine 13. AHV-Rente, abgeluchst. Es kommt einem Aufstand gleich.

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«Ein dicker Onkel ist wichtiger als Klimaschutz. Ein dicker Onkel ist wichtiger als Landesverteidigung.»
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Die meiste Zeit aber gilt: Lasst den dicken Onkel in Ruhe! Wir brauchen ihn! Er ist uns Vorbild. Dick ist schön. Wir wollen alle dicker werden. Das ist das Credo des Landes, das antwortet die Bäckersfrau in siebter Generation den nörgelnden Angestellten. Ein dicker Onkel ist wichtiger als kluge Kinder. Deshalb sparen wir bei der Bildung. Ein dicker Onkel ist wichtiger als Klimaschutz. Ein dicker Onkel ist wichtiger als Landesverteidigung. Und ist nicht auch der Putin ein dicker Onkel? Und wie ging das mit dem fettleibigen Onkel von der UBS und dem Spritzgebäck aus dem CS-Verkauf: 30 Milliarden, von der Bäckermeisterin Karin persönlich dekoriert, restlos verputzt. Überzeugend an dieser Kur: Je dünner wir werden, umso schöner wird der dicke Onkel in seiner Fettleibigkeit.

Die Angestellten? Sie fürchten den Onkel. Wer ihm keine weiteren Hefeschnecken mehr geben will, der muss sich was anhören: Schuldenbremse, Wettbewerbsfähigkeit, Steuerstandort, Staatsquote, Sozialismus, Saupack. Die Furcht ist übertrieben, aber nicht unbegründet. 

Unterschätzen darf man den dicken Onkel nicht. Er steht mit der Bäckermeisterin auf gutem Fuss. Und was, wenn man von ihr auf die Strasse gestellt wird? Dann ist man vielleicht froh um den dicken Onkel. Arbeitskampf? In unserer schönen Bäckerei? Wir wollen doch den dicken Onkel nicht vertreiben. Wir wollen frische Eclairs, keinen Klassenkampf, keine Unruhe in der Bäckerei. Deshalb streichen wir den Angestellten die Pausen und kürzen die Brötchen für ihre Kinder. Dann lassen wir sie bis ins hohe Alter hinter dem Tresen stehen. Für den Traum von finanzieller Sicherheit und einer guten Ausbildung für die Kinder. Und wenn es dazu nicht reicht, reicht es für die Faust im Sack. In der hält man die Krümel, die der fette Onkel uns gelassen hat.

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