Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Darum muss Karin Keller-Sutter Asylministerin bleiben

Die Schweiz erlebt den grössten Zustrom von Flüchtenden seit dem Zweiten Weltkrieg. Es wäre eine schlechte Idee, würde Karin Keller-Sutter in dieser schwierigen Situation in ein anderes Departement wechseln.
Publiziert: 20.11.2022 um 08:50 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 13:28 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Die Schweiz erlebt den grössten Zustrom von Flüchtenden seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese Woche wurde die Marke von 70'000 Schutzgesuchen aus der Ukraine erreicht. Hinzu kommen seit Anfang Jahr über 18'000 Asylbewerber, vor allem aus Afghanistan, der Türkei und Eritrea.

Bislang stossen die Opfer von Putins Vernichtungsfeldzug in der Schweizer Bevölkerung auf viel Sympathie. Entsprechend gross sind die Bemühungen von Kantonen und Gemeinden, ihnen eine menschenwürdige Unterkunft zu bieten. Ohne den selbstlosen Einsatz von Privatpersonen allerdings wäre die Lage nicht zu bewältigen. 45 Prozent der 70'000 Geflüchteten aus der Ukraine leben bei Gastfamilien.

Dass diese schwierige Situation in der Öffentlichkeit keine höheren Wellen schlägt, liegt auch an der Person von Karin Keller-Sutter. Den Ukrainerinnen und Ukrainern begegnet unsere Asylministerin mit passiver Offenheit: Die Schweizer Aufnahmepraxis orientiert sich wesentlich an derjenigen der EU – und die lässt sich für einmal von humanitären statt bürokratischen Grundsätzen leiten. Die eigentliche Arbeit indes überlässt der Bund anderen, am liebsten natürlich den freiwilligen Helferinnen und Helfern.

Mit diesem Pragmatismus reduziert Keller-Sutter ihre Angriffsfläche: Die Linke sähe es zwar gern, wenn sich Bern mehr engagieren würde, sie ist aber erleichtert über das grundsätzliche Wohlwollen – bei vielen Rechten ist es gerade umgekehrt. Und so halten sich für den Augenblick beide Seiten mit Kritik zurück.

Ein weiterer Vorteil ist Karin Keller-Sutters Parteibuch. In der bürgerlich dominierten Schweiz stösst eine FDP-Politikerin auf weniger Widerstand als beispielsweise jemand von der SP. Das gilt für keinen Bereich mehr als für die emotional sensible Flüchtlingspolitik. Ein linker Asylminister steht automatisch unter dem Verdacht der Gefühlsduselei.

Vor zwei Wochen wurde an dieser Stelle daran erinnert, wie heftig Simonetta Sommaruga in ihrer Zeit als Asylministerin von rechts attackiert wurde. SVP und FDP machten die Sozialdemokratin fast schon persönlich für jeden einzelnen Flüchtling verantwortlich. Nachdem Sommaruga auf Anfang 2019 ins Umwelt- und Energiedepartement gewechselt und mit Keller-Sutter eine FDP-Bundesrätin das Dossier übernommen hatte, verschwand das Thema Migration von der Traktandenliste – daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.

Als Sommaruga Anfang Monat ihren Rücktritt ankündigte, lautete die erste Wortmeldung aus dem Kreis der Journalisten: «Sie legen Ihr Amt mitten in einer Energiekrise nieder. Das hinterlässt Fragezeichen.» Dagegen gilt es unter Politikern, Politologen und Medienschaffenden als selbstverständlich, dass Keller-Sutter jetzt den Wechsel in ein anderes Departement anstrebt. Der «Tages-Anzeiger» etwa schreibt: «Karin Keller-Sutter könnte der kolportierte Wechselwunsch ins Finanzdepartement des abtretenden Ueli Maurer gewährt werden, nachdem sie vor vier Jahren widerwillig das Justizdepartement übernommen hat.»

Niemand fragt, wie sich ein solcher Weggang inmitten der aktuellen Flüchtlingssituation auswirken könnte. Ein Ende des Kriegs gegen die Ukraine ist ebenso wenig in Sicht wie ein Rückgang der Asylgesuche aus anderen Ländern. Die Gemeinden bekunden zunehmend Mühe, genügend Wohnraum für Schutzsuchende bereitstellen zu können; obendrein fehlt es an Betreuungspersonal. Auch ist nicht gesagt, wie lange die positive Grundstimmung gegenüber den Menschen aus der Ukraine anhalten wird. Bereits hat die SVP im Parlament einen ersten Vorstoss lanciert, den Schutzstatus S einzuschränken. Weitere werden folgen.

Man kann sich vorstellen, wie viel Unruhe es bringen würde, sollte ein frisch gewählter Bundesrat der SVP Karin Keller-Sutter an der Spitze des Justiz- und Polizeidepartements beerben. Nicht minder leicht lässt sich ausmalen, welche Folgen es hätte, sollte die neue SP-Bundesrätin den Posten übernehmen. Für die Rechte wäre die Verlockung enorm, eine linke Asylministerin für jeden einzelnen Flüchtling verantwortlich zu machen – zumal in einem Wahljahr.

Die Schweiz erlebt den grössten Zustrom von Flüchtenden seit dem Zweiten Weltkrieg. Was es da ganz bestimmt nicht verträgt, ist parteipolitisch motivierte Polemik. Für den inneren Frieden unseres Landes wäre es wichtig, wenn Keller-Sutter ihre persönlichen Vorlieben hintanstellen und in ihrem angestammten Departement verbleiben würde.

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