Wenige Schritte vom Bundesasylzentrum an der Duttweilerstrasse in Zürich entfernt empfängt die neue Chefin des Staatssekretariats für Migration (SEM), Christine Schraner Burgener (59), in einem fensterlosen Raum zum Interview. Das Gebäude, das vom SEM für die Personenbefragungen im Asylverfahren genutzt wird, befindet sich im Umbau. Es werde erdbebensicherer gemacht, hatte uns zuvor eine Mitarbeiterin informiert. Doch schon heute wird das SEM durchgeschüttelt. Innert kurzer Zeit hatte das Amt die Asylprognosen für 2022 nach oben korrigieren müssen. Hinzu kommen die Schutzsuchenden aus der Ukraine, die zum Winter hin wieder in grösserer Zahl in die Schweiz gelangen könnten. Es sind grosse Herausforderungen, die Schraner Burgener zu meistern hat, die seit Anfang Jahr als Staatssekretärin für Migration amtet.
Blick: Frau Schraner Burgener, in den Asylzentren herrscht Bettenmangel. Sie müssen die Asylsuchenden rascher an die Kantone abgeben. Was ist falsch gelaufen?
Christine Schraner Burgener: Nichts ist falsch gelaufen. In anderen Ländern müssen Geflüchtete draussen oder in Zelten schlafen, bei uns nicht. Die Schweiz hat die Ukraine-Krise gut gemeistert. Wir haben ja davor gewarnt, dass diese Situation im Herbst eintreten könnte. Das war keine Schwarzmalerei. Bis Ende Jahr könnten tatsächlich 80'000 bis 120'000 Schutzsuchende aus der Ukraine bei uns sein. Und bei den Asylsuchenden rechnen wir ebenfalls mit bis zu 24'000 Gesuchen. Diese Zahlen sind enorm. Wir sind in der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Und nun jammern einige Kantone.
Das empfinde ich nicht so. Ich stehe in ständigem Kontakt mit den Kantonen. Für sie wie für uns ist es eine grosse Herausforderung, so vielen Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben. Ich verstehe auch, wenn die Kantone im ersten Moment wenig erfreut sind, dass wir ihnen vorübergehend mehr Leute zuweisen. Aber wir haben keine Wahl. Unsere Bundesasylzentren sind voll, wir beherbergen gegen 9000 Menschen. Viele Kantone haben aber in den letzten Monaten sehr gut gearbeitet und sind gut vorbereitet. Wir vom SEM sind seit Monaten in Kontakt mit der Armee und konnten so mehrere Mehrzweckhallen für die Unterbringung von Asylsuchenden bereit machen.
Reichen diese Unterkünfte der Armee?
Nein. Ich bin immer eher auf der vorsichtigen Seite, denn man muss gut vorbereitet sein auf alle möglichen Entwicklungen. Glücklicherweise hat uns der Kanton Obwalden auf dem Glaubenberg weitere 270 Betten zugesagt, zusätzliche Unterkünfte sind in Diskussion. Armee und Kantone sind sehr kooperativ. Dafür sind wir sehr dankbar.
Christine Schraner Burgener (59) ist seit Anfang Jahr Staatssekretärin für Migration im Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Die Juristin war 1997 die erste Schweizer Diplomatin, die im Jobsharing mit ihrem Mann arbeitete – zuerst in Dublin, später als Botschafterin in Thailand. Danach war sie Botschafterin in Berlin, bis die Uno sie 2018 zur Sondergesandten für Myanmar ernannte. Schraner Burgener hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Bern.
Christine Schraner Burgener (59) ist seit Anfang Jahr Staatssekretärin für Migration im Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Die Juristin war 1997 die erste Schweizer Diplomatin, die im Jobsharing mit ihrem Mann arbeitete – zuerst in Dublin, später als Botschafterin in Thailand. Danach war sie Botschafterin in Berlin, bis die Uno sie 2018 zur Sondergesandten für Myanmar ernannte. Schraner Burgener hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Bern.
Sie geben Personen an die Kantone ab, die einen negativen Asylentscheid erhalten haben, also das Land verlassen müssen. Die Kantone müssen schauen, dass sie gehen. Betreiben Sie ein Schwarzpeterspiel?
Keineswegs! Der Vollzug der Wegweisungen ist seit jeher eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen. Wir überweisen sie nun früher, weil wir die Plätze für neu ankommende Asylsuchende brauchen. Und wahrscheinlich kommen wir nicht umhin, ab kommender Woche auch Asylsuchende an die Kantone weiterzureichen, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen sind. Wir können diese Krise nur gemeinsam meistern.
Sie suchen also händeringend nach Betten, aber auch nach Personal.
Ja, das fordert uns heraus – aber die Kantone auch. Die Erfahrung zeigt, dass es im Dezember weniger Gesuche geben dürfte. Wenn es kälter wird, wird es auf der Flüchtlingsroute durch den Balkan ruhiger. Dafür könnten wegen der schwierigen Energieversorgung in der Ukraine mehr Menschen von dort zu uns kommen. Somit ist unsicher, ob sich die Lage im Winter tatsächlich entspannt.
Welche Kosten hat dies zur Folge?
Ich habe einen Nachtragskredit von 1,2 Milliarden Franken beantragt. Sollten zum Winter hin tatsächlich wieder viel mehr Schutzsuchende aus der Ukraine zu uns kommen, müssten wir nochmals für einen zusätzlichen Kredit an den Bundesrat gelangen.
Hat sich der S-Status für die Ukrainer bewährt?
Auf jeden Fall. Wenn wir für die 65'000 Menschen, die derzeit den Schutzstatus haben, Asylverfahren hätten durchführen müssen, wäre das System implodiert. Darum ist der S-Status wie geschaffen für eine Krise in unmittelbarer Nähe, bei der es um Vertriebene geht, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, wenn die Situation es erlaubt.
Sie wollen den S-Status also weiterführen?
Ja. Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat ja klargemacht, dass er vorläufig weiterläuft. Jedoch wird die Regierung wohl schon bald über die Weiterzahlung der 3000 Franken befinden, die die Kantone für jede Person erhalten, die den Schutzstatus S hat. Das dürfte sie in den nächsten Wochen tun.
Anders als beim S-Status hat das SEM bei den Asylsuchenden zu klären, ob diese wirklich persönlich bedroht sind. 1800 Gesuche können Sie pro Monat bewältigen, aber es gehen viel mehr ein. Darum brauchen Sie Personal. Besteht die Gefahr, dass jetzt unqualifizierte Leute eingestellt werden?
Nein, wir stellen nur Mitarbeitende ein, die für diese Aufgabe qualifiziert sind. Zur Bearbeitung von Asylanträgen müssen wir diese aber zuerst schulen. Das dauert bis zu sechs Monate.
Man hört, dass es in vielen Zentren zu Problemen mit Asylsuchenden komme. Stimmt das?
Je mehr Menschen auf engem Raum zusammen sind, desto höher ist das Konfliktpotenzial. Die Asylsuchenden in unseren Zentren haben oft seit Jahren keine Arbeit, manche kämpfen mit psychischen Problemen oder Drogensucht. Wir achten darauf, problematische Gruppen wenn möglich zu trennen. Seit der Neustrukturierung der Verfahren können wir den Asylsuchenden im Durchschnitt innert 75 Tagen Gewissheit geben, ob sie in der Schweiz bleiben können oder das Land verlassen müssen.
Sind diese schnellen Verfahren der Grund, weshalb wir weniger Leute im Asylwesen haben als Österreich?
Ja, mit Sicherheit. Pro Woche kommen im sanktgallischen Buchs etwa 800 Migranten aus Österreich an. Fast alle wollen weiterreisen, nur sehr wenige beantragen Asyl. Offenbar rechnen sie sich bessere Chancen aus, wenn sie in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien ein Asylgesuch stellen.
Könnte man diese Migranten nicht einfach wieder in den Zug zurück nach Wien setzen?
Sie kämen mit dem nächsten Zug wieder zurück zu uns. Aber natürlich möchten wir diese Migration nicht. Deshalb hat Bundesrätin Karin Keller-Sutter mit dem österreichischen Innenminister Gerhard Karner einen Aktionsplan zur Eindämmung der irregulären Migration verabschiedet.
Da geht es aber um Serbien.
Nein, auch um die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Österreich. Vorgesehen sind im Plan beispielsweise gemeinsame Patrouillen mit Österreich, grenzüberschreitende Fahndungen und anderes.
Solche gibt es nicht? Und zurückschicken kann man die Menschen auch nicht? Hat die Schweiz vielmehr ein Problem mit Österreich als mit Flüchtlingen?
Nein, Österreich ist ein verlässlicher Partner. Aber Österreich hat ein Problem mit jenen Staaten, die den Menschen die Tore in den Schengen-Raum öffnen, beispielsweise Serbien. Davon ist auch die Schweiz betroffen. Bundesrätin Keller-Sutter hat bei einem europäischen Treffen in Luxemburg auf den Tisch geklopft und die Probleme mit der Visafreiheit benannt – und viel Zustimmung erhalten.
Und der Erfolg?
Die EU hat rasch das Gespräch mit Serbien gesucht. Und Serbien hat sogleich gehandelt. Burundi wurde die Visafreiheit entzogen. Damit wird es für Personen aus Burundi schwieriger, in den Schengen-Raum einzureisen. Auch bei Tunesien dürfte sich etwas ändern.
Kommen wir zu Ihnen: Man war überrascht, als eine Diplomatin an die SEM-Spitze berufen wurde. Was bringen Sie aus Ihren bisherigen Tätigkeiten mit, das Sie nun ins Asylwesen einbringen wollen?
Ich habe mit dem SEM ein tolles Amt übernommen und traf auf sehr motivierte und engagierte Mitarbeitende. Darum muss ich hier nichts umkrempeln. Selbst bin ich ja krisenerprobt. Ich erlebte und durchlitt mehr als genug Krisen in meinem bisherigen Berufsleben. Glücklicherweise blieben mir solche privat erspart. Aber ja, natürlich schaue ich immer mit Interesse auf die geopolitischen Entwicklungen.
Wenn Sie auf die Krisenherde schauen – fällt Ihr Blick derzeit auf den Iran?
Ja, aber ich schaue auch weiter, bis nach Taiwan. Im Moment befürchte ich weniger, dass die iranischen Entwicklungen Auswirkungen aufs SEM haben. Bei Taiwan stellt sich aber die Frage, welche geopolitischen Folgen eine Eskalation für Länder wie die Schweiz hätte, die ihre Guten Dienste anbieten.
Sie selbst haben bekanntlich eine Frau aus der Ukraine aufgenommen. Läuft das gut?
Noch immer sind etwa 40 Prozent der Schutzsuchenden aus der Ukraine bei Privaten untergebracht. Ich freue mich sehr über die anhaltende Solidarität der Schweizer Bevölkerung. Für mich und meine Familie ist es anders als für Leute, bei denen die Schutzsuchenden in derselben Wohnung leben. Bei uns wohnt die junge Frau in einer separaten Wohnung nebenan. Jeder ist zwar für sich, dennoch teilt man einiges. Sie hatte kürzlich Geburtstag. Ich habe ihr ein blaues Paket und gelbe Rosen geschenkt. Als ich mit einer Kerze auf einem Kuchen und mit den Geschenken bei ihr klingelte, musste sie weinen. In einem solchen Moment ist der Krieg in der Ukraine plötzlich ganz nah.