Viermal mehr als im bisherigen Rekordjahr 2015
Europa hat dieses Jahr 4,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen

Derzeit ist Europa mit fast fünf Millionen Vertriebenen Schauplatz der grössten Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Dabei wird mit dem Winterbeginn ein neuer Zustrom von Fliehenden aus der Ukraine erwartet.
Publiziert: 05.11.2022 um 01:24 Uhr
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Aktualisiert: 05.11.2022 um 09:59 Uhr
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Lviv in der Westukraine: Menschen zünden Kerzen für gefallene Soldaten an. Der Krieg in der Ukraine hat die grösste Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst.
Foto: Keystone

Mit dem Krieg an seiner Ostflanke verzeichnet Europa in diesem Jahr einen Rekord an Flüchtlingen. Der Kontinent hat 4,4 Millionen Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Hinzu kommen mehr als 365'000 Erstanträge auf Asyl von Geflohenen aus Syrien und Afghanistan. Dies berichtet die «New York Times».

Im bisherigen Rekordjahr 2015 hatte Europa rund 1,2 Millionen Flüchtlinge vorwiegend aus dem Nahen Osten aufgenommen – was die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (68) zu ihrem berühmt gewordenen Zuspruch veranlasste: «Wir schaffen das.»

Mit dem Winterbeginn dürfte jetzt noch eine weitere Flüchtlingswelle aus der Ukraine auf Europa zurollen. Russische Rakete haben rund 40 Prozent der Energie- und Wasserversorgung des Landes zerstört. Vielen Menschen droht der Kältetod.

Keller-Sutter rechnet mit anhaltend hohem Migrationsdruck

Der Migrationsdruck auf die Schweiz wird laut Justizministerin Karin Keller-Sutter in den kommenden Jahren nicht abnehmen – im Gegenteil. Solange es nicht gelinge, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern, halte die Migration an.

Während die Bevölkerungszahl in Europa zurückgehe, könnte sie sich in den afrikanischen Ländern bis 2050 verdoppeln, sagte Keller-Sutter in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung». 40 Prozent der Menschen dort seien jünger als 15 Jahre. Sie wollten dorthin gehen, wo es Wohlstand und Demokratie gebe.

Krieg zwölf Autostunden von St. Gallen entfernt

Die Akzeptanz von flüchtenden Menschen aus der Ukraine sei grösser als von Flüchtlingen aus anderen Regionen. Das hänge vermutlich damit zusammen, dass der Krieg in Europa stattfinde – zwölf Autostunden von St. Gallen entfernt. Und dass über 80 Prozent der Vertriebenen aus der Ukraine Frauen und Kinder seien.


Das Verständnis sei aber weniger gross, wenn junge Männer hier Schutz suchten, nachdem sie bereit mehrere sichere Länder durchquert hätten. Die humanitäre Tradition der Schweiz biete jenen Schutz, die ihn bräuchten, weil sie an Leib und Leben bedroht seien. Die Schweiz wolle hingegen keine Wirtschaftsmigration unter dem Titel «Asyl».

«Wir möchten keine illegale Migration. Wir möchten keine Sekundär-Migration. Und wir möchten nicht, dass Menschen zu uns kommen, die unseren Schutz nicht benötigen», sagte die Bundesrätin weiter. Daher habe sie mit ihrem österreichischen Amtskollegen bei der EU wegen Serbiens Visa-Politik interveniert.

Balkan-Route

Jede zweite Person, die von der Grenzwache aufgegriffen werde, komme über die Balkan-Route in die Schweiz. Auf Druck der EU habe Serbien nun reagiert. Die Schweiz könne davon ausgehen, dass Serbien seine Visa-Praxis bis Ende dieses Jahres ändern werde.

Die Kritik von deutschen Oppositionspolitikern, die Schweiz schleuse Flüchtlinge an der Ostgrenze in andere Staaten durch und verletze damit die Pflichten als Mitglied des Schengenraumes, habe sie mit der deutschen Innenministerin Nancy Faeser besprochen. Faeser habe diese Aussage bedauert. Von offizielle Seite komme keinerlei Kritik.

Der Migrationsdruck auf die Schweiz wird laut Justizministerin Karin Keller-Sutter in den kommenden Jahren nicht abnehmen – im Gegenteil. Solange es nicht gelinge, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern, halte die Migration an.

Während die Bevölkerungszahl in Europa zurückgehe, könnte sie sich in den afrikanischen Ländern bis 2050 verdoppeln, sagte Keller-Sutter in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung». 40 Prozent der Menschen dort seien jünger als 15 Jahre. Sie wollten dorthin gehen, wo es Wohlstand und Demokratie gebe.

Krieg zwölf Autostunden von St. Gallen entfernt

Die Akzeptanz von flüchtenden Menschen aus der Ukraine sei grösser als von Flüchtlingen aus anderen Regionen. Das hänge vermutlich damit zusammen, dass der Krieg in Europa stattfinde – zwölf Autostunden von St. Gallen entfernt. Und dass über 80 Prozent der Vertriebenen aus der Ukraine Frauen und Kinder seien.


Das Verständnis sei aber weniger gross, wenn junge Männer hier Schutz suchten, nachdem sie bereit mehrere sichere Länder durchquert hätten. Die humanitäre Tradition der Schweiz biete jenen Schutz, die ihn bräuchten, weil sie an Leib und Leben bedroht seien. Die Schweiz wolle hingegen keine Wirtschaftsmigration unter dem Titel «Asyl».

«Wir möchten keine illegale Migration. Wir möchten keine Sekundär-Migration. Und wir möchten nicht, dass Menschen zu uns kommen, die unseren Schutz nicht benötigen», sagte die Bundesrätin weiter. Daher habe sie mit ihrem österreichischen Amtskollegen bei der EU wegen Serbiens Visa-Politik interveniert.

Balkan-Route

Jede zweite Person, die von der Grenzwache aufgegriffen werde, komme über die Balkan-Route in die Schweiz. Auf Druck der EU habe Serbien nun reagiert. Die Schweiz könne davon ausgehen, dass Serbien seine Visa-Praxis bis Ende dieses Jahres ändern werde.

Die Kritik von deutschen Oppositionspolitikern, die Schweiz schleuse Flüchtlinge an der Ostgrenze in andere Staaten durch und verletze damit die Pflichten als Mitglied des Schengenraumes, habe sie mit der deutschen Innenministerin Nancy Faeser besprochen. Faeser habe diese Aussage bedauert. Von offizielle Seite komme keinerlei Kritik.

Zweiklassensystem

Insgesamt viermal mehr Flüchtlinge in einem Jahr infolge des Krieges in der Ukraine, dies markiere die grösste Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, wie Hanne Beirens sagt, Direktorin am Migration Policy Institute Europe in Brüssel. Europa sei «mit der grössten Zwangsumsiedlung seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert», so Beirens. Hinzu kommen hohe Inflation und eine drohende Energiekrise, was Lebenskosten weiter ansteigen lässt und die Flüchtlingskrise noch verschärft.

Flüchtlinge aus der Ukraine würden dabei weiterhin bevorzugt behandelt, wie die Journalisten der «New York Times» aus deutschen Grossstädten und Brüssel berichten. Diese neue Flüchtlingskrise werfe «unbequeme Fragen» für Europa auf. Es herrsche ein Zweiklassensystem. «Da Europa den Ukrainern einen automatischen Aufenthalt und ein Visum gewährt hat, stehen die Ukrainer bei der Unterbringung und der Versorgung von Flüchtlingen an vorderster Front.»

Für Flüchtlinge aus anderen Ländern sei die Lage weitaus schwieriger. Asylbewerber seien «in überfüllten Aufnahmezentren eingepfercht». Dazu wird ein Mann namens Basharmal Mohammadi aus Afghanistan zitiert. Er lebt rund eineinhalb Kilometer vom belgischen Königspalast entfernt mit anderen afghanischen Teenagern unter einer Betontreppe. Die Gruppe teilt sich Pappkartons und eine Matratze. «Ich hätte nie gedacht, dass ich in Europa auf einer Strasse wie dieser leben würde», sagte Mohammadi. «Ich dachte, ich könnte hier ein besseres Leben führen.» (kes)

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