Das schafft sonst keiner: Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler (1888–1962) hatte zeitlebens eine Zigarre im Mund, liebte gutes Essen mit einem Glas Wein – und gilt dennoch als Abstinenzler der Nation.
Bis zum 4. Juni sollen 2,3 Millionen Genossenschafterinnen und Genossenschafter darüber abstimmen, ob in den Migros-Filialen künftig Alkohol verkauft werden darf. Die Konzernspitze hat sich grossmehrheitlich dafür ausgesprochen; eine Gruppe um Ex-Migros-Chef Herbert Bolliger will die selbst auferlegte Prohibition beibehalten. Beide Seiten verweisen dabei auf den Gründer. «Dieses Verbot war Dutti wichtig», meint Bolliger zu wissen. Während die Präsidentin des GenossenschaftsBundes, Ursula Nold, sagt: «Bei unseren Recherchen haben wir realisiert, dass Dutti selbst die Statuten zweimal ändern wollte, 1948 und 1952.»
Die Berufung auf Duttweiler liegt nahe. Der Zürcher war mehr als ein Unternehmer. Er träumte vom «sozialen Kapital» – einer Wirtschaftsordnung, die nicht den Franken, sondern den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dieser Gedanke ist noch immer bedeutend und aktuell. Wie Dutti zum Alkohol stand, ist heute dagegen völlig unerheblich. Das Verbot stammt aus den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, einer Zeit, in der viele Männer ihren Lohn sofort in der Beiz versoffen. Hätte Duttweiler mit seinen Verkaufswagen den Schnaps frei Haus geliefert, wäre der Alkoholismus noch gefördert worden – zumal es ihm ja stets gelang, seine Produkte deutlich billiger anzubieten als die Konkurrenz. Heute, fast 100 Jahre später, ist die Situation in der Schweiz völlig anders: Getrunken wird noch immer, doch der tägliche Alkoholkonsum ging in den vergangenen Jahrzehnten stark zurück. Alkoholismus als Massenphänomen gibt es nicht mehr – und der Preis spielt kaum noch eine Rolle.
Auch das Argument, eine alkoholfreie Migros könne Süchtigen das abstinente Leben erleichtern, ist zu relativieren. Schliesslich steht neben jeder Migros-Filiale ein Denner – gefüllt mit Bier, Wein und Spirituosen aller Art. Von den Migrolinos und dem Onlineshop, wo es ebenfalls Alkohol gibt, ganz zu schweigen. Das Alkoholverbot der Migros ist deshalb nicht nur überholt, sondern auch scheinheilig.
Zugegeben: Man kann das anders sehen. Duttweiler sollte dabei aber nie ein Argument sein. Denn wer sich strikt auf Worte und Taten von jemandem beruft, der in einer komplett anderen Welt gelebt hat, für den gibt es nur eine Bezeichnung: Fundamentalist.
Dutti dagegen war das Gegenteil: ein Visionär.