Der Output an Putin ist im letzten Jahr explosionsartig angewachsen: Gab es gemäss der Schweizerischen Mediendatenbank 2021 in den erfassten deutschsprachigen Artikeln 22'312 Nennungen des Namens, war der russische Herrscher 2022 sage und schreibe 118'942 Mal erwähnt: eine Steigerung von über 500 Prozent! Kein Wunder, denn Russland hat letztes Jahr den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen. Angesichts dieses Zusammenhangs möchten wir alle weniger Putin lesen. Ein Über- und Verdruss macht sich breit.
Doch mindestens einmal müssen Sie noch durch: während der Lektüre der soeben erschienenen Analyse des deutschen Journalisten Michael Thumann (60), denn das Buch bringt Putins Denken und Wirken auf den Punkt. Thumann ist der beste Russlandkenner, zumindest im deutschsprachigen Raum: Er studierte Geschichte, Politik und Slawistik in Berlin, New York, Sankt Petersburg und Moskau, wo er heute noch lebt und für die Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit» berichtet.
«Als die russischen Truppen am frühen Morgen des 24. Februar die Ukraine überfielen, schlief ich in meiner Moskauer Wohnung», schreibt Thumann. «Die Redaktion von ‹Zeit Online› klingelte mich um halb sechs Uhr morgens aus dem Bett.» Bei seinen Analysen und Reportagen leiten ihn drei Grundgedanken: «Erstens: Wladimir Putin nimmt Rache. (…) Zweitens: Russland reagiert nicht auf uns, sondern es entwickelt sich aus sich selber heraus. (…) Drittens: Putins Aufstieg ist eine Spielart des radikalen neuen Nationalismus.»
Zum ersten Punkt: «Manche im Westen glauben, Putins Feldzug sei ein Regionalkrieg ohne grössere Bedeutung für die Welt», schreibt Thumann. Russland wolle sich bloss die Ukraine einverleiben. Aber das sei ein gefährlicher Irrtum: In der Auseinandersetzung mit dem Westen verfolge Putin das zentrale politische Projekt seiner Amtszeit seit seiner Rückkehr in das Präsidentenamt 2012: «Revanche und Machtübernahme.» Er wolle den Westen begraben, wie das einst Nikita Chruschtschow (1894–1971) vorschwebte.
Punkt zwei: Wenn Russland die Vernichtung des Westens beabsichtigt, dann reagiert das grösste Land der Welt auf USA und Co.! Auch das sei ein Irrtum, so Thumann, «mehr noch: eine Geringschätzung». Denn Russland sei als Land zu gross und als internationaler Akteur zu unabhängig, als dass seine Führung grundlegende Richtungsentscheidungen in der Politik vom Ausland abhängig machen würde. Thumann: «Putin hat Russland von Europa entfernt wie kein russischer Führer vor ihm.»
Punkt drei: Zum neuen Nationalismus veröffentlichte Thumann 2020 ein wegweisendes Buch (besprochen in «Zur Sache!»). Putin eignete sich diese Denkrichtung erst 2012 an, nachdem seine Umfragewerte im eigenen Land dramatisch abgestürzt waren. «Als Nationalist hat er sich seine Ideologie im fortgeschrittenen Alter von 60 Jahren zugelegt», schreibt Thumann, «er spielt mit ihr und variiert sie nach Belieben, um nicht falsifizierbar zu sein.» Sein Platz in der Geschichte sei ihm aber bereits sicher: als blutrünstigster Herrscher Russlands seit Josef Stalin (1878–1953).
Michael Thumann, «Revanche – wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat», C. H. Beck