Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Piraten prägten 1720 die Welt bis heute

Der amerikanische Kulturanthropologe David Graeber macht auf Madagaskar um 1720 die ersten Ansätze der Aufklärung aus – nicht im Europa des 18. Jahrhundert, wie in manchem Lehrbuch steht.
Publiziert: 17.01.2023 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2023 um 14:53 Uhr
Paradies für Piraten: Die Insel Sainte Marie nordöstlich vor Madagaskar.
Foto: Getty Images
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Im Pfadilager während der Sommerferien sassen wir abends jeweils vor dem Lagerfeuer und sangen Volkslieder, zum Beispiel dieses: «Wir lagen vor Madagaskar / Und hatten die Pest an Bord. / In den Fässern, da faulte das Wasser / Und täglich ging einer über Bord.» Ein deftiger Text mit lüpfiger Melodie – und vor unserem geistigen Auge sahen wir Sonne, Meer und Palmenstrand: Seeräuberromantik pur.

«Dieses Buch handelt von Piratenkönigreichen, von realen und der Fantasie entsprungenen», schreibt der wegweisende US-Kulturanthropologe David Graeber (1961–2020) in seinem letzten Buch, das jetzt posthum erscheint. «Lasst uns also eine Geschichte über Zauberei erzählen, über Lügen, Seeschlachten, entführte Prinzessinnen, Sklavenaufstände (…), die mit dem Ursprung der modernen Freiheit verbunden sind.»

Während seiner Feldforschung auf Madagaskar in den Jahren 1989 bis 1991 hörte Graeber, dass dort auf der Insel vor Ostafrika einst zahlreiche Piraten aus der Karibik gelebt hatten: Vertrieben aus dem Archipel zwischen Nord- und Südamerika segelten mehrere Tausend von ihnen von Ende des 17. bis Anfang des 18. Jahrhunderts in den Indischen Ozean und liessen sich auf Sainte Marie vor Madagaskar, später auf der Hauptinsel nieder.

Graeber wäre nicht der anarchistische Vordenker der «Occupy Wall Street»-Bewegung, nicht der führende Kritiker der eurozentrischen Weltsicht, nicht der Mitverfasser von «Anfänge», einer neuen Geschichte der Menschheit, wenn er «auf der Suche nach der wahren Freiheit» bei den Piraten nicht auch eine bisher unerforschte Form menschlichen Zusammenlebens aufdecken würde.

«Piratenschiffe, Piratensiedlungen (…) waren in vielerlei Hinsicht bewusste Experimente in Sachen einer radikalen Demokratie», schreibt Graeber. «Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass sie tatsächlich einige der ersten Ansätze des politischen Denkens der Aufklärung darstellen.» Piratenschiffe umgaben sich mit Geschichten von Wagemut und Furcht und Schrecken, «aber an Bord selber scheinen die Besatzungen ihre eigenen Angelegenheiten durch Gespräche, Beratungen und Debatten geregelt zu haben».

Während sich europäische Siedler im 16. Jahrhundert von den Madagassen abschotteten, liessen sich die Piraten auf Mischehen ein und verbündeten sich mit den Machthabern. Das Betsimisaraka-Bündnis von 1720 nennt Graeber eine Revolution: Die Betsimisaraka sind eine Volksgruppe auf Madagaskar, ihr Anführer damals war Ratsimilaho (1684–1750), Sohn einer Madagassin und eines englischen Piraten.

Diese Gemeinschaft hat Auswirkungen bis in die Gegenwart, wie Graeber schreibt: «Wir wissen, dass die Menschen, die heute in dem einst vom Bündnis beherrschten Gebiet leben – einem fast 700 Kilometer langen Küstenstreifen –, als eine der Volksgruppen Madagaskars gelten, die am konsequentesten an egalitären Strukturen festhalten.»

David Graeber, «Piraten – auf der Suche nach der wahren Freiheit», Klett-Cotta

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