Auf dem Boden schlängelt sich eine Federboa, übers Sofa hingeworfen das kleine Schwarze, und neben dem Bett liegt ein Schlips: Viele feierten eine gediegene Silvesterparty und schlafen nun weit ins 2023 hinein. Andere sind am 1. Januar frisch und elegant gewandet, um ans Neujahrskonzert im Casino Bern, im KKL Luzern oder in der Zürcher Tonhalle gehen zu können. Ob zum Jahresabschluss oder zum Jahresauftakt: Menschen zeigen sich dieser Tage in Gesellschaft besonders modisch.
«Die Mode ist allerdings weit mehr als Kleidung», schreibt der deutsche Publizist Kersten Knipp (56) in seinem kürzlich erschienenen Buch. «Sie umfasst zuletzt nahezu alle Aspekte des menschlichen Lebens, mischt sich in alle Angelegenheiten ein und diktiert dem Menschen seine Verhaltensweise.» All dies gehe zurück auf ein sich im 17. Jahrhundert entwickeltes europäisches Bewusstsein für die Kunst, in einer Gesellschaft zu leben, «und zwar angenehm» (Knipp).
Höfliche Umgangsformen haben ihre Wurzeln in Frankreich. Aber noch am Hof von Sonnenkönig Ludwig XIV. (1638–1715) ist Etikette eine Maske für kalte, berechnende Leute. «Dieser schlechte Ruf hat seine Vorgeschichte», schreibt Knipp. «Auch im fortgeschrittenen 17. Jahrhundert stand die Hofgesellschaft noch unter den Eindrücken der Kriege des vorhergehenden Jahrhunderts.» Religiöse Kämpfe zwischen Katholiken und Reformierten, die ihren Tiefpunkt in der Bartholomäus-Nacht (23. bis 24. August 1572) fanden.
Haudegen, die sich ständig duellieren wollen, sind aber fortan nicht mehr gefragt – es braucht eine feinere Klinge. «So sind es insbesondere die Frauen, die nach und nach einen neuen Lebensstil in die französische Gesellschaft tragen», so Knipp. «Sie verbreiten einen neuen, feinen Ton, indem sie das Gespräch um stilistische Nuancen bereichern.» Männer, die den gepflegten Umgang lernen wollen, kommen nicht umhin, die Schule der Damen zu besuchen, die sogenannten Salons.
Der Salon ist ein gesellschaftlicher Treffpunkt. Die Gäste pflegen eine lockere Form der Galanterie, das Spiel der sich absichtslos gebenden Koketterie, die Kunst des Flirts, der allerdings um seine Grenzen weiss. «Es reicht nicht mehr, ein hübsches Äusseres zu haben», schreibt Knipp. «Um als wirklich attraktiv zu gelten, brauchen sie in galanten Kreisen fortan Geist, die Fähigkeit zum intelligent-verspielten Gespräch.»
Selbst wenn der höfliche Umgang miteinander heute schwinde und kaum mehr ein Mann für eine Frau die Tür aufhalte oder für sie im Tram den Platz freigebe, sei die Galanterie ein Erbe früherer Jahrhunderte, das man nicht ausschlagen könne. «Das feinfühlige, mit sämtlichen Sinnen geführte Gespräch, die freischwebende Aufmerksamkeit für das gesamte Umfeld: All dies, behaupte ich, macht die Welt nicht nur angenehmer und schöner, sondern auch besser – zumindest ein bisschen», schliesst Knipp.
Kersten Knipp, «Die Erfindung der Eleganz – Europa im 17. Jahrhundert und die Kunst des geselligen Lebens», Reclam