Der mächtige Mann machte mir als Kind Angst: Wenn am 6. Dezember bei uns zu Hause die Glocke läutete, versteckte ich mich lieber. Dieses Jahr treten die mächtigen Menschen am 7. Dezember auf: Wenn dann im Bundeshaus das Glöcklein läutet, steht die Wahl für zwei neue Mitglieder in den Bundesrat an. Menschen, vor denen niemand fliehen will, die im Gegenteil die Massen begeistern sollen. Menschen, die eine gewisse Machtgier und Mission haben.
«Der Mensch und die Macht» heisst das neue Buch des renommierten britischen Historikers Ian Kershaw (79). Darin porträtiert er zwölf Personen – elf Männer und eine Frau –, die im 20. Jahrhundert in einem europäischen Land regierten und die zu den Erbauern oder Zerstörern des Kontinents gehören. Darunter ist niemand aus der Schweiz, dafür Adolf Hitler (1889–1945), über den Kershaw um die Jahrtausendwende ein zweibändiges Standardwerk schrieb.
Vom russischen Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) über die britische Premierministerin Margaret Thatcher (1925–2013) bis zum deutschen Kanzler Helmut Kohl (1930–2017): Auf je rund 40 Seiten umreisst der Historiker kenntnisreich Charakterzüge eines Machtmenschen und (zufällige) Umstände, die ihn oder sie an die Spitze eines Staates brachten. Und zum Schluss beleuchtet Kershaw die Hinterlassenschaften des behandelten politischen Anführers, der Anführerin.
Zumindest bei Lenin reichen die Wurzeln – was die Umstände betrifft – in die Schweiz, denn er lebte im Zürcher Exil, als in seiner russischen Heimat der Zar abdankte. «Es ist kaum vorstellbar, wie Lenin ins revolutionäre Petrograd (heutiges Sankt Petersburg a. d. Red.) hätte gelangen können», so Kershaw, «wenn die deutsche Regierung ihm und rund dreissig seiner Mitstreiter nicht über Mittelsmänner gestattet hätte, mit einem Zug von der Schweiz nach Russland zu fahren.»
Krieg sei der wichtigste Wegbereiter, schreibt der Historiker. «Ohne den Ersten Weltkrieg hätten Lenin – und sein Nachfolger Stalin –, Mussolini und Hitler kaum eine Chance gehabt, an die Spitze ihrer Staaten zu gelangen.» Ohne den Zweiten Weltkrieg wäre es höchst unwahrscheinlich gewesen, dass der Brite Winston Churchill (1874–1965), der Franzose Charles de Gaulle (1890–1970) und der Jugoslawe Josip Broz Tito (1892–1980) an die Macht gekommen wären.
Diktatoren und Demokraten, Zerstörer und Erbauer: Gibt es zwischen den zwölf so unterschiedlichen in diesem Buch vorgestellten politischen Personen Gemeinsamkeiten? «Sie alle waren ausserordentlich entschlossen und charakterstark bei der Überwindung von Schwierigkeiten und Rückschlägen», schreibt Kershaw. Sie alle seien «Getriebene» gewesen, mit dem Gefühl ausgestattet, eine Mission zu haben und ein «Schicksal» zu erfüllen.
Ian Kershaw, «Der Mensch und die Macht – über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert», DVA