Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
«Sind Rehe die neuen Borkenkäfer?»

Schön, scheu, scham- und schmackhaft ist das Reh und steht derzeit auf manchem Menüplan. An vorderster Front blasen Förster zur Jagd und machen das Tier zum Sündenbock. Zu Unrecht, wie Journalist und Jäger Rudolf Neumaier zeigt.
Publiziert: 22.11.2022 um 06:00 Uhr
|
Aktualisiert: 19.11.2022 um 14:38 Uhr
Das Europäische Reh ist die in Europa häufigste und kleinste Art der Hirsche.
Foto: Getty Images/Imagebroker RF
RMS_Portrait_AUTOR_883.JPG
Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Es war grün und mit der Zeit ziemlich zerfleddert, denn als Kind blätterte ich es immer und immer wieder durch: das Bilderbuch «Bambi» nach dem gleichnamigen Trickfilm. Mit seinen grossen Kulleraugen ist das Reh eine frühe Prägung meines Lebens. Und dann der Schock, als ich die Originalgeschichte von Felix Salten (1869–1945) las: Einerseits ist es nicht DAS treuherzige Tierchen, sondern DER Bambi, andererseits ist die Erzählung viel brutaler als im Weichspüler-Film von Disney.

«Beim fraglos berühmtesten Reh der Literaturgeschichte handelt es sich um ein Bockkitz namens Bambi», schreibt der Journalist Rudolf Neumaier (51) in seinem kürzlich erschienenen Buch «über ein sagenhaftes Tier». Der frühere Feuilletonist der «Süddeutschen Zeitung» und heutige Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege in München betrachtet das Reh aus biologischer, historischen und künstlerischer Sicht und beschreibt es auch als Politikum.

«Alle lieben Bambi. Alle? Nicht ganz», schreibt Neumaier. Für Forstökonomen und Jagdscheininhaber, die forstökonomisch denken, Rehe als Ungeziefer betrachten und sich in einem sogenannten ökologischen Jagdverein zusammengetan hätten, sei Bambi so lästig wie eine Zecke. «Sind Rehe die neuen Borkenkäfer?», betitelte selbst Wald-Papst, Förster und Bestseller-Autor Peter Wohlleben (58) ein Symposium. Und tatsächlich liest man immer wieder, wie Rehe sich über knospende junge Bäume hermachen.

Neumaier sieht das freilich anders. Dabei ist er selber Jäger. «Ja, ich töte Rehe», schreibt er. «Ich esse sie, und vorher trage ich ihnen die Kugel an.» Neumaier liebt Rehe, er hat sie zum Fressen gerne, aber als Schädlinge würde er sie nie bezeichnen. Und das sind sie gemäss dem jüngsten bayerischen Vegetationsgutachten auch nicht: Demnach ist der Anteil der Pflanzen mit frischem Leittriebverbiss bei den Fichten bei 2 Prozent, bei Tannen bei 11, bei Kiefern bei 5, bei Buchen bei 16 und bei Eichen bei 25. Neumaier: «Das heisst zum Beispiel, dass 98 Prozent der Fichten ebenso unversehrt wachsen (…) wie 75 Prozent der Eichen.»

Und trotzdem nimmt der Abschuss von Rehen Jahr für Jahr zu. «In Wirklichkeit haben die Förster es irgendwann verbockt mit dem Wald», schreibt Neumaier. «Sie haben Monokulturen angebaut.» Fichten, Fichten, Fichten. Spätestens der Sturm Lothar am Stephanstag 1999 zeigte auch bei uns, dass das nicht so gut kommt: Die Bäume fielen wie Dominosteine, ganze Waldflächen lagen flach. Und wie regieren die Förster? «Am besten nichts von alten Fehlern sagen und nichts vom Töten», schreibt Neumaier. Am besten erzählen, den Rehen gehe es besser, wenn es weniger seien.

Doch so Neumaier weiter: «Jahr für Jahr mehr und mehr Rehe zu töten, ist jedenfalls keine Lösung.» Wenn die Förster einsähen, dass ein Wald kein Maisfeld sei und wenn sie das auch den Waldbauern vermitteln würden, hätten die Rehe bedeutend weniger Jagdstress.

Rudolf Neumaier, «Das Reh – über ein sagenhaftes Tier», Hanser

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?