Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Hunde sehen die Welt in Gelb und Blau

«Die einzig wahre Reise wäre für uns, wenn wir andere Augen hätten, die hundert verschiedene Welten sehen könnten», schrieb einst Marcel Proust. Mit diesem faszinierenden Buch kann man die Welt mannigfach durch Tieraugen betrachten.
Publiziert: 18.10.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2022 um 13:03 Uhr
Eine Welt in Gelb und Blau: Hunde sehen nur zweifarbig.
Foto: imago images/Nature Picture Library
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Diesen Sommer hatte ich Corona. Dank zweifacher Impfung und Booster war der Verlauf glimpflich. Doch etwas irritierte mich: Noch Tage danach hatte ich trotz freier Atemwege kaum Geruchsempfinden – Essig stoch mir nicht in die Nase, Zwiebelschneiden rührte mich nicht zu Tränen. Essen und Trinken machten so keinen Spass mehr. Jetzt rieche ich wieder normal, und sogar die olfaktorische Wahrnehmung eines Furzes bereitet mir wieder Freude. Dabei gehörte ich zu den vielen Menschen, die der Meinung sind, am ehesten auf den Geruchssinn verzichten zu können.

«Diese Lehrbuchmeinung (…) basiert auf einer Kultur, in der Gerüche lange zu wenig wertgeschätzt wurden», schreibt Ed Yong (40), britischer Wissenschaftsjournalist von «The Atlantic», in seinem eben veröffentlichten Buch. So war der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) der Ansicht, Geruch liesse sich nur durch Vergleiche beschreiben – ein Sinn ohne Worte. «Über ein ausgefeiltes Vokabular für Gerüche verfügen» demgegenüber malaiische Völker, wie Yong zu berichten weiss. Wenn nur schon Menschen unterschiedliche Sinneserfahrungen machen, wie anders muss da die Welt der Tiere sein.

Der Rüssel der Elefanten, der Schnabel der Albatrosse oder die gespaltene Zunge der Schlangen: Das sind alles Geruchsorgane. Und der Wels ist sozusagen eine schwimmende Zunge: Überall auf der Haut sind Geschmacksknospen verteilt. «Selbst wenn Tiere die gleichen Sinne besitzen wie wir, können sie eine ganz unterschiedliche Umwelt haben», schreibt Yong. «Manche Tiere hören Geräusche, wo für uns vollkommenes Schweigen zu herrschen scheint, sie sehen Farben, wo es für uns vollkommen dunkel ist, und spüren Schwingungen, obwohl für uns alles bewegungslos ist.»

Reize aller Art prasseln andauernd auf Lebewesen der Erde ein. Yong: «Licht ist schlicht elektromagnetische Strahlung. Schall besteht aus Druckwellen. Gerüche sind kleine Moleküle.» Um nicht im Meer dieser Eindrücke zu ertrinken, konzentriert sich jede Spezies auf einen Hauptsinn. So erschnüffeln Hunde mit ihren feinen Nasen jeden Raum, können aber nur dichromatisch sehen: Für sie erscheint die Umgebung in Weiss, Schwarz, Blau und Gelb. Rot können sie nicht erkennen. Bienen übrigens auch nicht.

«Farbe ist im Grundsatz etwas Subjektives», schreibt Yong. «Ein Grashalm ist in seinem Wesen ebenso wenig ‹grün› wie das Licht von 550 Nanometern, das er reflektiert.» Fast alles, wozu ein Tier die Augen benutze, sei auch mit Grautönen möglich. Weshalb dann Farben? Der Grund liegt im Meer, wo alles Leben herkommt: Wenn sich in bewegtem Wasser die Helligkeit ständig ändert, ist es schwierig auszumachen, ob eine dunkle Form der Schatten eines Feindes oder eine Wolke über dem Meer ist. «Farbsehen – insbesondere mit Gegenfarben – bietet Konstanz», so Yong.

Jeder Sinn habe seine Vor- und Nachteile, und jeder Reiz sei unter manchen Voraussetzungen nützlich und unter anderen nutzlos. Deshalb, so Yong: «Keine Spezies bedient sich irgendwann einmal nur eines Sinns und schliesst alle anderen aus.» Hunde seien Meister des Geruchssinns – aber es gelte auch ihre grossen Ohren zu beachten.

Ed Yong, «Die erstaunlichen Sinne der Tiere – Erkundungen einer unermesslichen Welt», Kunstmann

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