Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Der Kampf um mehr Gleichheit ist nicht abgeschlossen

Alle sind gleich, aber manche sind gleicher: Das alte Bonmot gilt auch heute noch. Aber es geht laufend voran mit der Gleichheit, wie Bestseller-Autor Thomas Piketty in seinem neuen Buch herausarbeitet.
Publiziert: 20.09.2022 um 06:12 Uhr
1793 kam die französische Königin Marie Antoinette unter die Guillotine – und alle jubelten.
Foto: mauritius images
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Kaum ein Auge bleibt trocken: Angesichts des Todes der britischen Queen Elizabeth II. schwappt eine royale Gefühlswelle über unsere Köpfe. Da mag es seltsam anmuten, dass einst eine Königin unter die Guillotine kam, dadurch mutwillig dem Tod anheimfiel – und alle jubelten. Doch die Losung der Französischen Revolution von 1789 lautete eben «Liberté, Égalité, Fraternité» (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Und für die Gleichheit ragte das gekrönte Haupt viel zu hoch hinaus. Die Abschaffung der Monarchie war das auslösende Ereignis für sozialen Ausgleich.

«Glaubt man einem weit verbreiteten Ammenmärchen, so haben wir seit der Aufklärung und den ‹atlantischen Revolutionen› (in den USA 1776 und Frankreich 1789, Anm. d. Red.) in den westlichen Ländern Rechtsgleichheit», schreibt der französische Ökonom Thomas Piketty (51) in seinem neuen Bestseller «Eine kurze Geschichte der Gleichheit». Gleichwohl sieht er eine historische Bewegung hin zur Gleichheit: «So ungerecht sie scheinen mag», so Piketty, «die Welt der beginnenden 2020er-Jahre ist egalitärer als die von 1950 oder 1900, die ihrerseits in zahlreichen Hinsichten egalitärer war als die Welt von 1850 oder 1780.»

Näher betrachtet sieht das nicht mehr so rosig aus: Frankreich und die USA seien sklavenhalterische und kolonialistische Republiken gewesen, in denen bis in die 1960er-Jahre legale Diskriminierung herrschte. «Dasselbe gilt für die britische und niederländische Monarchie», schreibt Piketty. In Wahrheit sei die seit Ende des 18. Jahrhunderts proklamierte Rechtsgleichheit eine Gleichheit unter weissen Männern, «vor allem aber besitzenden weissen Männern». Die Französische Revolution müsse man in einen langen, unabgeschlossenen Kampf um Gleichheit einordnen.

Entscheidender erachtet Piketty einen Prozess des 19. und 20. Jahrhunderts: «Die Überwindung der Sklaverei und des Kolonialismus ist ein Meilenstein auf dem langen Weg zu Gleichheit.» Doch Nationen, die andere nicht mehr ausbeuten, finden neue Wege, um sich abzuheben: Sie schotten sich mit hohen Zöllen gegen ausländische Märkte ab. «Der Protektionismus spielte freilich eine zentrale Rolle nicht allein beim Aufstieg Europas, sondern in nahezu allen Fällen erfolgreicher Wirtschaftsentwicklungen in der Geschichte», schreibt Piketty – ob Japan seit Ende des 19. Jahrhunderts oder China seit Ende des 20. Jahrhunderts.

Doch wie die alten neigen auch die neuen Mächte dazu, weniger entwickelte Länder dauerhaft von sich abhängig zu machen und ihnen die Mittel einer eigenständigen Entwicklung zu verwehren, so der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Piketty weiter. Und er schliesst daraus: «Der Kampf um mehr Gleichheit ist nicht abgeschlossen.» Ob zwischen den Staaten oder innerhalb eines jeden einzelnen Staates. Und um ihn national fortzusetzen, müsse man den Weg zum Sozialstaat, zur progressiven Steuer und zur realen Gleichheit in aller Konsequenz weiterverfolgen.

Thomas Piketty, «Eine kurze Geschichte der Gleichheit», C. H. Beck

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