Wahrscheinlich haben Sie diesen Sommer auch eins gegessen: ein Vanilleglace. Vanille gehört nach wie vor zu den beliebtesten Glace-Sorten. Wenn ich daran denke, kommt mir immer der Sommer vor bald 50 Jahren in den Sinn: Damals machte unsere Familie Ferien auf der Bettmeralp VS. Und wenn ich als Knirps mit meinem älteren Bruder in der Dorfbäckerei Brot kaufen ging, gab es dort immer ein hausgemachtes Vanilleglace im Chübeli – das beste auf der ganzen Welt!
«Bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein war Vanille in vielen Teilen Europas zwar ein beliebtes Gewürz in Kakaogetränken, Gebäck und Fleischsossen», schreibt die Berner Historikerin Noemi Harnickell (30) in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Verstörend betörend», «allerdings wusste niemand, dass die Pflanze eine Orchideenart ist.» So wie der englische Ausdruck «you’re so vanilla» heute etwas Durchschnittliches meint und jede Gelateria hippere Sorten anbietet, so ist die Orchidee zu etwas Gewöhnlichem verkommen.
Die Orchidee ist der Gummibaum der Gegenwart und steht in vielen Wohn- und Wartezimmern rum. «Die beliebteste und am meisten verkaufte Orchidee ist die Phalaenopsis», schreibt Harnickell. Ursprünglich aus Südostasien, kommt sie heute aus deutscher sowie vor allem niederländischer Produktion und gelangt via Grossverteiler und schwedisches Möbelhaus für beschämend wenig Geld an die Kundschaft – ein Massenprodukt eben.
In dieser Entwicklung mag der niederländische Botaniker und Orchideenexperte Rogier van Vugt (39) nichts Verwerfliches sehen – ganz im Gegenteil. Harnickell zitiert ihn: «Die beste Art, den illegalen Handel mit gefährdeten Arten aufzuhalten, sieht er darin, die Märkte zu überschwemmen.» Und vom Schweizer Orchideensammler Roland Amsler (54) bekommt sie ein Anschauungsbeispiel, wie gefährdet Orchideen sein können: Er erzählt von einer neu entdeckten Art auf einem Baum in Brasilien, die es nur dort gab – dann fiel der Stamm einer Säge zum Opfer und mit ihm die Blüten.
Orchideen wachsen häufig auf Bäumen, weshalb man die Pflanzen lange für Parasiten hielt. Sie sind eigenartige Lebewesen, die am besten im Umfeld von Pilzen gedeihen, mit Luftwurzeln atmen und die kleinsten Samen im ganzen Pflanzenreich aufweisen. Harnickell: «Sie sind fein wie Staub, wiegen ein Millionstel Gramm und können vom Wind Hunderte Kilometer weit getragen werden.» Die Autorin berichtet von etwa tausend Orchideengattungen mit insgesamt rund dreissigtausend verschiedenen Arten.
«Nichts widerspricht der Auffassung, Orchideen seien langweilig, mehr als das Cover des Buches», schreibt Harnickell. Darauf ist die bunte Zeichnung «Orchideen» des deutschen Zoologen Ernst Haeckel (1834–1919) zu sehen. Angesichts solcher Bilder stimmte Harnickell lange der US-Botanikerin Sandra Knapp (65) zu, die in der Orchidee einen «lauten, übertrieben gekleideten Gast auf der Party» sieht. Aber das macht diese Pflanze und dieses Buch darüber ja gerade so spannend.
Noemi Harnickell, «Verstörend betörend. Im Bann der Orchidee», HarperCollins