Ferienzeit ist Fliegerzeit: Kaum sind die Corona-Massnahmen gelockert, steigen wieder viele Schweizerinnen und Schweizer in Flugzeuge, um schnell an die Meeresstrände dieser Welt zu düsen. Und während sie in den langen Schlangen der Abflughallen stehen, haben sie nur die Sehnsucht, möglichst schnell abzuheben. Würde man sie in diesem Moment fragen, welches Lied ihnen in den Sinn kommt, würden wahrscheinlich über 90 Prozent der deutschsprachigen Touristen einen Titel nennen: «Über den Wolken» von Reinhard Mey (79).
«Kein anderes Lied ist so sehr ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen wie ‹Über den Wolken› von 1974», schreibt Michael Schneider (58) in seinem unlängst erschienenen Buch «Meylensteine». Es sei zweifellos der erste Liedtitel, die allererste Assoziation, die Personen jeglichen Alters mit Mey gleichsetzen. Doch der deutsche Liedermacher veröffentlichte von 1967 bis 2020 auf 28 deutschsprachigen Alben weitere 362 Kompositionen – 62 davon nimmt Schneider unter die Lupe und erklärt mit ihnen das Prinzip Mey.
Michael Schneider – in Göttingen (D) geboren, wohnhaft in Aarau – war über Jahre Geschäftsführer des auf klassische und zeitgenössische Musik spezialisierten Künstlerhauses Boswil AG und ist selber Komponist. Hier präsentiert er sich nun als Mey-Kenner der ersten Stunde: «Die erste Tournee-LP von 1971 führte mich in sein musikalisches Universum ein», schreibt Schneider. «Reinhard Mey gehört zu den Erinnerungen meiner Kindheit und meiner Jugend.» Und nun legt Schneider das erste Buch zum musikalischen Werk des Liedermachers vor.
Geschickt bündelt der Autor thematisch gleichlautende Lieder zu einem Kapitel und führt so melodiös durchs Leben von Mey. Ausgehend von der Komposition «Mein Berlin» (1990) schreibt Schneider: «Es ist sein Lebensort, Nabel seiner Welt, Ort, zu dem er immer wieder zurückkehrt und von dem seine Lieder ausgehen.» 1942 in der kriegsversehrten deutschen Hauptstadt zur Welt gekommen, schicken die Eltern Reinhard bereits Mitte der 1950er-Jahre als Austauschschüler nach Paris. «Deutschland und Frankreich sind Meys zwei Heimatländer», so Schneider – was in den Chansons «Douce France» (2004) und «Mein Land» (2002) zu hören ist.
«In Meys Musik begegnen wir einem Komponisten, Texter und Sänger, der immer authentisch ist, wenn er Persönlichstes in einer Vielzahl von Schattierungen aussagt», schreibt Schneider. Mey sei Chronist seiner eigenen Lebensgeschichte, aber auch Zeitzeuge: «Er repräsentiert den zur Legende gewordenen Prototypen eines modernen Barden, Minne- oder Bänkelsängers, der umherzieht, um Neuigkeiten zu verkünden.» Seine Aufgabe sei zu mahnen, zu kritisieren, aber auch zu versöhnen und zu unterhalten – und das macht Mey seit Jahr und Tag mit Bravour.
Michael Schneider, «Meylensteine – Reinhard Mey und seine Lieder», Rüffer & Rub