Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Der Quickie im Museum ist wenig befruchtend

«Ich sehe was, was du nicht siehst …»: Museumsbesuche sollte man mit Freunden machen, denn im Gespräch miteinander erkennt man mehr auf Gemälden.
Publiziert: 21.06.2022 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.06.2022 um 17:03 Uhr
Durchschnittlich verweilen Museumsbesucher vier Sekunden vor einem Bild.
Foto: U. Baumgarten via Getty Images
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Wenn dieser Text als Gemälde in einem Museum hinge, gingen Sie jetzt weg. Denn die durchschnittliche Verweildauer vor einem Bild beträgt dort gemäss einer Studie rund vier Sekunden – das schrieb ich 2019 in einem Artikel für dieses Magazin. «Heute wischen wir uns im Sekundentakt durch die Bilderflut auf Instagram, Snapchat und Facebook», sagte mir damals Arno Stern (55), Direktor des Franz-Gertsch-Museums in Burgdorf BE. «Dieses Verhalten wirkt sich sicher auch auf den Umgang mit Bildern in Museen aus.»

«Bild und Zeit» heisst ein neues Sachbuch des deutschen Kunsthistorikers Johannes Grave (46), der diesen Quickie auf verschiedenen Ebenen betrachtet. Denn neben der Zeit, die Besucher mit Bildern verbringen, sind die Gemälde selber Dokumente einer Epoche. «Zugleich aber weisen zahlreiche Bilder über diese Entstehungszeit hinaus, da sie den Blick auf andere Zeiten zurück- oder vorauslenken, indem sie historische Ereignisse und Erzählungen aus der Vergangenheit vor Augen führen oder aber Ausblicke in die Zukunft bieten», schreibt Grave.

Der Professor für Neuere Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (D) belegt, dass sich bereits der italienische Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti (1404–1472) in seinem Malereitraktat von 1435/36 Gedanken machte, wie man die Verweildauer verlängern kann: Das Historiengemälde solle sich «so anmutig und schmuckreich darbieten, dass es die Augen eines gelehrten ebenso wie die eines ungelehrten Betrachters für lange Zeit fesselt, unter Vermittlung einer besonderen Lust und inneren Bewegung».

Von einer Wanderung der Augen über das Bild ist in der Folge die Rede. Untersuchungen mittels Eye-Tracking zeigen allerdings, dass diese Wanderung nicht auf klaren Bahnen verläuft, sondern sprunghaft und ungeordnet ist. Die Augen wechseln ständig zwischen Sakkaden (schnellen Bewegungen) und Fixationen. Für Grave ist das Eye-Tracking wenig aussagekräftig. Selbst wenn man wisse, dass das Augenmerk zu einem Zeitpunkt einem Bildelement gelte: Schaut der Betrachter auf die Maltechnik oder die inhaltliche Aussage?

«Unser Sehen ist mit guten Gründen überwiegend pragmatisch und zweckorientiert», schreibt Grave. Das gelte auch für den Blick auf Bilder. Und dennoch plädiert er für längeres Hingucken: Der Wert einer lang anhaltenden und wiederholten Betrachtung von Bildern erschöpfe sich nicht darin, mühsam, aber beharrlich zu einem vorbestimmten Ziel zu gelangen. «Vielmehr kann die Betrachtung mit ihrer eigenen Zeitlichkeit im besten Sinne Selbstzweck sein», so Grave weiter.

Und wie verweilen wir länger vor einem Bild im Museum? «Es gibt eine recht einfache Möglichkeit», schreibt Grave, «den Dialog unter mehreren Betrachterinnen und Betrachtern.» Damit meint er keine belehrende Unterweisung, sondern einen offenen Austausch, der nicht auf eine einzige vermeintlich korrekte Deutung ausgerichtet sei. Der bringe es ganz zwanglos mit sich, dass wir die Zeit des Betrachtens als sinnerfüllt und augenöffnend erfahren.

Johannes Grave, «Bild und Zeit – eine Theorie des Bildbetrachtens», C. H. Beck

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