Sie haben so wohlklingende Namen wie «Air», «Kunst der Fuge» oder «Goldberg-Variationen». Und wer mehr als drei gefühlte Stunden am Leben ist, hat bestimmt schon eine Komposition des Deutschen Johann Sebastian Bach (1685–1750) gehört und ist von ihr angetan. Berühmt ist er auch für Singstücke wie «Herz und Mund und Tat und Leben», «Wachet auf, ruft die Stimme» und «Schweiget still, plaudert nicht». Trotz dieser sprechenden Titel komponiert Bach nie ein Gesangstheater – und das in der Barockzeit, in der die Oper so richtig in Mode kommt.
«Warum Johann Sebastian Bach keine Oper schrieb» heisst das neue Buch des Bündners Iso Camartin (78). Doch entgegen der klaren Ansage weiss der frühere Professor für rätoromanische Literatur und ehemalige Kulturchef des Schweizer Fernsehens die Antwort auch nicht. Vielmehr stellt er Vermutungen an, spricht in der Möglichkeitsform: «wäre», «hätte», «könnte» – eigentlich ein No-Go für ein Sachbuch, das Fakten liefern sollte. Doch Camartin entwirft seine Ansichten mit so viel Ahnung, Anmut und Anteilnahme, dass man ihm gerne auf seinem Gedankenspaziergang folgt.
Zunächst die Fakten: Bach ist von 1723 bis zu seinem Tod Thomaskantor in Leipzig und damit als Musikdirektor für die vier Hauptkirchen der Stadt verantwortlich. In dieser Zeit komponiert er geistliche Werke wie die «Johannes-Passion», die «h-Moll-Messe» oder das «Weihnachtsoratorium» – für Weltliches wie die Oper bleibt da keine Zeit. Dabei ist Bach nur zweite Wahl, wie Camartin ausführt: Eigentlich hätte Georg Philipp Telemann (1681–1767) Thomaskantor werden sollen, lässt sich aber von seinem alten Arbeitgeber dazu überreden, in Hamburg zu bleiben – wo er gegen 50 Opern schreibt.
Die grossen Städte mit ihren Opernhäusern sind damals die Orte, wo das Musiktheater spielt. «Während seines Lebens weilte Johann Sebastian Bach mehrmals auch in Berlin», schreibt Camartin. Wäre er 1721 als Hofmusiker dorthin und nicht im Jahr danach als Thomaskantor nach Leipzig berufen und verpflichtet worden, sei es durchaus vorstellbar, dass wir abendfüllende Opern aus seiner Feder kennen würden. «An der Kompetenz auch im Opernfach hätte es ihm gewiss nicht gefehlt», so Camartin weiter.
Als Beleg führt er Bachs «Minioper» «Der Streit zwischen Phoebus und Pan» ins Feld. Camartin: «Eigentlich ist hier alles vereint, was man sich für eine weltliche dramatische Musik jener Zeit vorstellen und wünschen konnte.» Ein Libretto, basierend auf der mythologischen Welt der lateinischen Antike, ein sechsstimmiger Chor, sechs Solisten in hohen und tiefen Stimmlagen, die untereinander einen musikalischen Wettstreit austragen, und ein Orchester bestehend aus Streichern, Flöten, Oboen, Trompeten und Pauken.
Doch Bach macht aus dem Stoff «nur» eine Kantate. Camartin kommt zum Schluss: «Für einen lutherisch geprägten Pietisten der Barockzeit waren die Kirchen die allerwichtigsten ‹Bühnen›.» Auf ihnen gestalte Bach das Los des Menschen als Sünder, Bereuender, Erlöster, Sterbender und der Ewigkeit entgegen Hoffender, mit allen dazu geeigneten Mitteln der Sprach- und Tonkunst.
Iso Camartin, «Warum Johann Sebastian Bach keine Oper schrieb», Rüffer & Rub