Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Philosoph deckt zwei Irrtümer über die Scham auf

Social Media ist der moderne Pranger, in dem sich Menschen schämen und beschämen. Der Philosoph Robert Pfaller geht diesem inflationären Gefühl auf den Grund.
Publiziert: 31.05.2022 um 08:46 Uhr
Flugscham: Wer heute in ein Flugzeug steigt, muss erröten.
Foto: imago images/Christian Ohde
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Was habe ich mich geschämt: Ein heisser Tag vor Jahren auf der Redaktion der «Basler Zeitung», zwischen Tür und Angel rede ich mit einem Redaktionskollegen; locker-lässig stütze ich meine Hand am Türrahmen und spüre, wie sich zwischen meiner schwitzenden Hand und dem Metall allmählich Schweiss bildet. Jetzt nur nicht die Position verrücken! Aus locker-lässig wird angespannt-verkrampft. Am Schluss dann doch: Wir verabschieden uns, ich nehme die Hand weg – und sein verdutzter Blick bleibt auf dem nassen Fleck haften.

«Wer sich schämt, möchte am liebsten im Boden versinken oder aus der Welt verschwinden, und die anderen möchten ihn nicht mehr sehen», schreibt der österreichische Philosoph Robert Pfaller (60) in seinem eben erschienenen Buch über die Scham. Sein Werk ist geprägt von der Einsicht, dass die neoliberale Kultur lustfeindlich ist. Entsprechend provokativ ist das Buchcover mit dem Abbild der nackten Eva eines alten Meisters, die ihre Scham mit einem Laubästchen zu verdecken versucht, und dem anzüglichen Titel: «Zwei Enthüllungen über die Scham.»

Doch es geht im Buch nie um das weibliche Geschlechtsteil, sondern um ein inflationäres Gefühl: Fleischscham, Zuckerscham, Flugscham, Autoscham, Plastikscham, Bauscham, Social-Media-Scham, Impfscham und Corona-Scham listet Pfaller auf und schreibt: «So schämen sich immer mehr Menschen für immer mehr Dinge.» In diesem Zusammenhang gebe es zwei Irrtümer, die er aufdecken wolle: Erstens sei die Empfindung von Scham nicht aussengeleitet und, zweitens, beruhe die Scham nicht auf einem Zuwenig, sondern auf einem Zuviel.

Zum ersten Punkt: Pfaller spricht der Scham die soziale Struktur nicht ab. Es braucht Mitmenschen, um sich zu schämen: Wer allein im Zimmer furzt, schämt sich kaum, sehr wohl aber jemand, der im Tram einen fahren lässt. Aber: «Sich schämen bedeutet nicht einfach nur bemerken oder befürchten, dass andere schlecht über einen denken», so Pfaller. Die Scham lasse sich dadurch nicht einfach beseitigen, indem alle Anwesenden ihre Meinung ändern. «Nicht das Wissen und die Missbilligung der anderen, sondern das Scheitern einer bis dahin von allen aufrechterhaltenen Illusion ist die Ursache für die Scham.»

Zum zweiten Punkt: «Dieser zweite Irrtum lautet, die Scham würde vom Über-Ich verursacht, wenn dieses am Ich einen Mangel feststellt.» Ein Mangel an Anstand, ein Mangel an Schönheit usw. Doch gemäss Pfaller muss man die Blickrichtung ändern und von einem Unter-Ich aus schauen. Dadurch lasse sich erklären, wieso nicht nur das Zeigen von Schwäche, sondern auch die Demonstration von Stärke Scham auslöse. Pfaller: «Der bessere andere wird nicht wahrgenommen als Leitbild und Verbündeter des eigenen Weiterkommens, sondern schlichtweg als obszöner Verursacher des eigenen Rückstandes.»

Robert Pfaller, «Zwei Enthüllungen über die Scham», S. Fischer

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