Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Wenn Untätigkeit keine Untat an der Natur ist

Schon der französische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) sagte, alles Unglück der Menschheit komme daher, dass wir nicht in Ruhe im Zimmer sitzen können. Dieses Buch ist ein Plädoyer fürs ruhige Schauen und Staunen.
Publiziert: 09.08.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.08.2022 um 11:26 Uhr
Schauen und staunen: Untätigkeit sollte man gemäss Philosoph Han wieder fördern.
Foto: Getty Images
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Die einen sehnen sich nach kommenden, die anderen zehren von vergangenen Ferienwochen. Für einen Moment nicht mehr eingebunden in den alltäglichen Arbeitsprozess, wollen alle in der freien Zeit entfesselt dem Nichtstun frönen. Doch das Runterfahren schaffen die wenigsten, denn die meisten machen Aktivferien und besichtigen diese Sehenswürdigkeit, erklimmen jenen Berg oder machen einen Tauchkurs. Und selbst wenn man am Strand liegt, «muss» man noch dies oder das machen. Nein, die Untätigkeit liegt uns Menschen nicht.

«Da wir das Leben nur noch auf Arbeit und Leistung hin wahrnehmen, begreifen wir die Untätigkeit als Defizit, das es schnellstmöglich zu beheben gilt», schreibt der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han (63) in seinem kürzlich erschienenen Buch. Der geringe gesellschaftliche Stellenwert der Untätigkeit lässt sich nur schon daran erkennen, dass sie kein positiver, sondern ein mit der Vorsilbe «Un» versehener negativer Begriff ist. Und dann ist noch die sprachliche Nähe zur Untat, zum Verbrechen.

Nichts weniger als eine Verteidigungsschrift für die Untätigkeit ist dieses Büchlein. «Sie ist keine Schwäche, kein Mangel, sondern eine Intensität, die aber in unserer Aktiv- und Leistungsgesellschaft weder wahrgenommen noch anerkannt wird», schreibt der am asiatischen Zen-Buddhismus geschulte Han. Sowohl der Schlaf als auch die Langeweile seien Zustände der Untätigkeit – der Schlaf als Höhepunkt der körperlichen, die Langeweile als Gipfel der geistigen Entspannung. Han: «Die Untätigkeit ist als solche ein geistiges Fasten.»

«Vita contemplativa» – lateinisch für: betrachtendes Leben – heisst das neueste Werk von Heidegger-Spezialist Han, der im Jahr 2000 an der Universität Basel die Professorenwürde erlangte. «Nicht zum Handeln, sondern zum Schauen schlägt das neugeborene Menschenkind die Augen auf», so Han. «Vita contemplativa» ist denn auch ein Gegenentwurf zu «Vita activa» (1958) der deutsch-amerikanischen Publizistin und politischen Theoretikerin Hannah Arendt (1906–1975).

Die Einzigartigkeit des Menschen offenbare sich, so glaubte Arendt, erst im Handeln. Die «vita contemplativa» deutete sie als Weltflucht. «Entgegen Arendts Überzeugung hängt die Zukunft der Menschheit nicht von der Macht handelnder Menschen ab», schreibt Han, «sondern von der Wiederbelebung des kontemplativen Vermögens.» Denn die «vita activa» entarte zur Hyperaktivität und ende im Burnout – nicht nur der Psyche, sondern auch des ganzen Planeten.

Zweifellos sei ein entschlossenes Handeln notwendig, um die katastrophalen Folgen des menschlichen Eingriffs in die Natur zu beheben. Aber wenn die Ursache des drohenden Unheils das absolut gesetzte menschliche Handeln gewesen sei, das sich rücksichtslos der Natur bemächtige und sie ausbeute, so müsse eine Korrektur am menschlichen Handeln selbst vorgenommen werden. Han: «Notwendig ist ein radikal gewandeltes Verhältnis zur Natur.»

Byung-Chul Han, «Vita Contemplativa – oder von der Untätigkeit», Ullstein

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