85 Millionen in London, über 52 Millionen in Paris und mehr als 34 Millionen in Berlin: Nein, das sind nicht die Einwohnerzahlen dieser Metropolen, sondern die touristischen Übernachtungszahlen der drei beliebtesten europäischen Destinationen im Vor-Corona-Jahr 2019. Ja, Städte wirken anziehend auf Reisende, aber auch auf Menschen, die dort bleiben und leben wollen.
«Die eine Hälfte lebt bereits in Städten», schreibt der britische Historiker Greg Woolf (60) in seinem aktuellen Buch «Metropolis» über die Weltbevölkerung. «Ende des Jahrhunderts wird diese Zahl wohl auf 75 Prozent angestiegen sein.» Doch das Augenmerk des Professors für Antike Geschichte an der University of California in Los Angeles und Verfassers des Standardwerks «Rom: Die Biographie eines Weltreichs» liegt nicht auf Gegenwart und Zukunft, sondern auf der Vergangenheit.
Heute gebe es fast überall Städte, «aber die ersten urbanen Systeme waren nichts weiter als kleine, sonderbare örtliche Experimente», so Woolf. Er weist darauf hin, dass der Urbanismus keinen Stammbaum mit einem Ursprung kenne. Vielmehr gebe es viele Ursprünge: Den ersten hatte er vor sechstausend Jahren im heutigen Irak, «eine zweite Geburt erfuhr der Urbanismus im Niltal», dann im Industal in Indien, im 2. Jahrtausend v. Chr. in Nordchina und schliesslich in Mexiko und Nordperu.
«Städte entstanden in der Mittelmeerwelt erst spät, sie waren überwiegend sehr klein, und die wenigsten Menschen lebten in ihnen», schreibt Woolf. Schätzungen gehen davon aus, dass es im Jahr 400 v. Chr. rund 850 Städte rund um die Küsten des Mittelmeers und des Schwarzen Meers gab. «Einer der grössten Orte war Athen, wahrscheinlich lebten dort zu Beginn des Jahrtausends rund tausend Menschen», schreibt Woolf.
Das British Museum in London, das Alte Museum in Berlin oder das Panthéon in Paris: Viele heutige Grossstädte nehmen mit ihren tempelartigen Gebäuden im klassizistischen Baustil Bezug auf die Architektur vermeintlich grosser antiker Vorbilder. Doch Woolf schreibt: «In Wahrheit ist der antike mediterrane Urbanismus sehr viel unspektakulärer als seine modernen Nachahmungen.»
Woolf benennt den Grund für diesen Irrtum: Jedes beliebige Buch über die «Herrlichkeit Griechenlands» oder die «stupende Brillanz Roms» beschreibe die antike Welt als eine «Welt der Städte». Die späteste und intensivste Phase des überstürzten Drangs unserer Spezies zum Urbanismus sei jedoch erst zwei- bis dreihundert Jahre alt – erst in dieser Zeit entwickelten sich die Millionen-Metropolen.
Dennoch liegen die Wurzeln im Altertum: «Gruppen von Menschen schufen in der Antike aus allen möglichen Gründen Städte», so Woolf, «und dann fanden sie für sie neue Verwendungszwecke.» Urbanisierung sei weder ein Sündenfall noch ein erster Schritt zu einer höheren Form des Menschseins. Woolf: «Städte sind offensichtlich Lösungen für verschiedene Probleme, und sie sind weder an sich gut noch schlecht.»
Greg Woolf, «Metropolis – Aufstieg und Niedergang antiker Städte», Klett-Cotta