Ich komme nicht aus einer Akademikerfamilie: Mein Grossvater war Maschinist auf den Dampfschiffen des Vierwaldstättersees, mein Vater ausgebildeter Schuhmacher, der später das Kaufmannsdiplom erwarb. Meine beiden älteren Brüder gingen nicht ans Gymnasium; als Jüngster war ich der Erste in der Familie, der mit etwas Glück und glücklich den akademischen Weg einschlug. Ich fühlte mich nie als etwas Besseres, war aber hocherfreut, dass ich ab Anfang der 1980er-Jahre diese staatliche Bildung geniessen durfte.
«Die Bildungsexpansion der Sechziger- und Siebzigerjahre setzte auf den akademischen Weg», schreibt Andreas Pfister (50) in seinem neuen Buch. «Mitte der Neunzigerjahre fand eine Kehrtwende statt: Die Schweiz baute den dualen Weg mit Berufsmaturität und Fachhochschule aus, der akademische Weg stagniert seither.» Grund genug für den Gymnasiallehrer, heute eine «neue Schweizer Bildung» zu skizzieren. Bereits mit seinem 2018 erschienenen Buch «Matura für alle» sorgte er für Aufruhr.
Eigeninteresse, möchte man meinen, denn Pfister unterrichtet an der Kantonsschule Zug Deutsch und Medien. Doch ihm geht es um Grundsätzlicheres: Er will, dass akademische Ausbildung nicht nur dem Nachwuchs wohlhabender, akademischer Eltern offensteht: «Lebenslanges Lernen und Weiterbildung können eine verbesserte Grundbildung nicht ersetzen.» Und er will die Schweiz damit für die Zukunft rüsten, denn als Land ohne natürliche Ressourcen ist Wissen das Kapital der hier Lebenden.
Pfister rechnet vor, dass die gegenwärtige industrielle Revolution – nach der Einführung der Dampfmaschine, der Elektrifizierung und der Digitalisierung die vierte – mit ihrer «neuen Stufe der Automatisierung» bis 2030 zum Verlust von knapp einer Million Jobs in der Schweiz führe, doch eine gute Million neuer Jobs komme hinzu. «Die neue Arbeit, welche durch die Industrie 4.0 entsteht, ist anspruchsvoll, abwechslungsreich, interessant», schreibt Pfister. Doch sie führe heute schon zu einem Fachkräftemangel an Hochqualifizierten.
«Im Eisenbahnzeitalter hat der Fachkräftemangel zu Bildungsoffensiven geführt», so Pfister. Es brauchte Ingenieure, also hat man die Jugendlichen in die Schule gesteckt und Hochschulen gegründet. Das sei heute nicht mehr so, konstatiert der Gymilehrer, es finde ein eigentlicher Paradigmenwechsel statt: «Wenn Ingenieurinnen und Ingenieure fehlen, dann muss man sie nicht mehr bilden, sondern man holt sie aus dem Ausland.» Mehr Bildung tut not, damit die einheimische Jugend nicht auf der Strecke bleibt.
Pfister wendet sich dabei keineswegs gegen den dualen Weg, fordert aber auch dort einen Abschluss mit Matura (Berufsmaturität), was durch mehr Lernen zwangsläufig zu einer Verlängerung der Lehre führt. Bis ins 19. Jahrhundert habe man die Bevölkerung für eine Agrargesellschaft gebildet, danach sei die gleiche Bevölkerung für die Industriegesellschaft in die Schulen gegangen, schreibt Pfister und fragt schliesslich: «Wenn dieser Schritt damals möglich war, weshalb jetzt nicht der nächste?»
Andreas Pfister, «Neue Schweizer Bildung – Upskilling für die Moderne 4.0», Hep