Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Die Zukunft der Moral liegt bei den Jungen

Die Moral hinterfragt die Zivilisation immer wieder aufs Neue. So sehr sie damit die Normen Erwachsener erschüttert und auf Ablehnung stösst, so klar muss man erkennen, dass dank ihr Folter und Sklaverei heute gesellschaftlich geächtet sind.
Publiziert: 06.09.2022 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.09.2022 um 19:41 Uhr
Wiedergänger der Outlaws des Wilden Westens: Donald Trump.
Foto: AP
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Natürlich habe ich als Knirps «gindiänerled» – ich hatte eigens ein Tipi für draussen. Und bei schlechtem Wetter spielten wir mit den Cowboyfiguren im Kinderzimmer – so war das in den 1970er-Jahren. Und nun ist Winnetou infrage gestellt. Da fühlt sich manch einer in den Grundfesten erschüttert: Früher war das normal, warum zieht man es jetzt in Zweifel? Weil die Zivilisation noch nicht abgeschlossen ist, wie der Soziologe Norbert Elias (1897–1990) einmal formulierte – und sich deshalb immer wieder neue moralische Fragen stellen.

Die Moral ist gemäss Wörterbuch ein «System von geschichtlich gewordenen und gesellschaftlich bedingten sittlichen Grundsätzen, Werten und Normen, von denen sich die Menschen in ihrem Verhalten zueinander leiten lassen». Während der staatlichen Massnahmen gegen die Corona-Pandemie lehnten sich einige lautstark gegen dieses System auf, entwickelten eine krankhafte Abneigung gegen gesellschaftliche Normen und zeigten eine «Moralophobia», wie der deutsche Autor Jörg-Uwe Albig (62) in seinem aktuellen Buch ausmacht.

Ging es früher, etwa bei der Auflehnung gegen die «Moralapostel» der Kirche, um eine freiere Gesellschaft, steht heute im vermeintlichen «Kampf gegen die Diktatur der Moral» nicht das Gemeinwohl im Vordergrund. «Es geht nicht um das liberale Projekt, möglichst viele Rechte für möglichst viele Menschen zu garantieren», schreibt Albig, «sondern um den libertären Narzissmus, möglichst umfassende Rechte für sich selbst und die eigene Gruppe zu konservieren.» Auf Kosten eines jeden, der nicht kräftig, ungeniert oder zeitig genug zugegriffen habe.

Diese egoistische Moralkritik sei allerdings nicht neu. «Sie ist mindestens so alt wie die Klage über den Siegeszug der Technik, die Verflachung der Kultur, die dummen Massen oder die ‹Jugend von heute›», so Albig weiter. In der Folge porträtiert er historische Egomanen und Moralverächter wie den deutschen Reichsritter Götz «Leck mich am Arsch» von Berlichingen (1480–1562), den französischen Pornografen Marquis de Sade (1740–1814) oder den amerikanischen Mafiaboss Al Capone (1899–1947), um am Schluss folgerichtig beim ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump (76) zu landen.

«Denn es gibt kaum eine Form der Solidarität, der sich die Moralphobie so allergisch verweigert wie die fiskalische», schreibt Albig. Da treffen sich der kriminelle Geldbeschaffer Al Capone und der Steuerhinterzieher Trump. Und beide ernten für ihr Fehlverhalten die Bewunderung ihres Umfelds. Albig vermutet gar, dass Trump für seine Wähler nur ein Wiedergänger der grossen Outlaws des Wilden Westens sei, «all der gesetz- und moralbefreiten Volkshelden, deren Wege zum Ruhm mit Leichen gepflastert sind».

Doch die Vergangenheit brauche keine Moral, so Albig: «Was ohne Moral jedoch nicht geht, ist die Zukunft.» Und die Zukunft der Moral sei erfahrungsgemäss bei den Nachwachsenden meist besser aufgehoben als bei Alten.

Jörg-Uwe Albig, «Moralophobia. Wie die Wut auf das Gute in die Welt kam», Klett-Cotta

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