Nun ist die Badesaison vorbei. Rekordmässig viele Schweizerinnen und Schweizer zog es diesen heissen Sommer an heimische Seeufer; zugenommen hat auch die Zahl derer, die nach der Pandemie wieder einmal ans Meer fuhren. Ob vom Sandstrand von Yvonand am Neuenburgersee oder von Rimini an der Adria: Manche haben noch ein paar Körner in der Badetasche. Denn wissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass Meereshungrige in Haaren und Kleidung unbewusst täglich 30 Gramm Sand vom Strand wegtragen. Und manche füllen willentlich ein Fläschchen als Souvenir ab.
«Einige Länder beginnen mittlerweile, an Touristenstränden das Sammeln von Sand zu verbieten», schreibt der deutsche Naturwissenschaftler Oliver Lenzen (62) in seinem eben erschienenen Prachtband «Das grosse Buch vom Sand». Denn wenn das Hunderttausende machten, könne das über die Zeit problematische Auswirkungen haben. Doch das weit grössere Problem stellt die Bauindustrie dar: «Ein Einfamilienhaus erfordert 200 Tonnen und ein einziger Kilometer Autobahn 30'000 Tonnen Sand», rechnet Lenzen vor. Den braucht es für Beton – weltweit verschwinden so rund 33 Milliarden Tonnen Sand pro Jahr.
Kein Problem, mag man da denken, auf der Welt hat es genug Wüsten. Doch Lenzen schreibt: «Wüstensand ist gegenüber Meeressand, bedingt durch seine Form und Oberflächenstruktur, nicht als Zuschlagstoff für höherfeste Betonarten geeignet.» Meeres-, aber auch Flusssande seien kantiger und erzeugten höhere Druckfestigkeit als die durch Wind und Abrieb abgerundeten Körner aus den Wüsten. Denn wie der Professor und Rektor der Hochschule Heilbronn (D) mit zahlreichen faszinierenden Fotos aufzeigt und in einem Buchkapitel beschreibt: «Sand ist nicht gleich Sand.»
Während Badende achtlos über den Sand ins Wasser rennen, nimmt Lenzen auf seinen Strandspaziergängen schon seit Jahren eine Lupe mit und betrachtet einzelne Proben später unter dem Mikroskop. Und was sich da zeigt und im Buch vielfach abgebildet ist, erweist sich als wahre Wunderwelt: Eckige, runde, bunte, durchsichtige, grössere und kleine Sandkörner, die sich über Jahrtausende und Jahrmillionen bildeten. «Ein jedes Sandkorn hat seine eigene Geschichte», so Lenzen. Und die erzählt der Wissenschaftler am Beispiel eines Quarzkorns nach.
Durch Temperaturwechsel oder Druckbelastungen entstehen im Gebirgsgestein Hohlräume, wo Wasser und Wurzeln von Pflanzen eindringen. Lenzen: «Es entsteht zunächst bröseliger Gesteinsgrus und je nach weiterem Fortgang schliesslich Sand.» Durch Gletscher, Gebirgsbach und Fluss gelangt der Sand ins Unterland. «Es ist zu vermuten, dass das Sandkorn eines Tages wohl an den Strand eines Meeres gespült wird.» 80 bis 90 Prozent erreiche über den Flusstransport das Meer – allein die Sedimentsfracht des Mississippi betrage jährlich 470 Millionen Tonnen.
Doch: «Die Reise der Sandkörner war am Strand noch lange nicht beendet!» Denn über lange geologische Zeiträume bilden sie Sedimentschichten im Meer, verdichten und kristallisieren sich: Sandstein entsteht. «Aus Gestein wird Sand, und aus Sand wird wieder Gestein», schreibt Lenzen – ein ewiger Kreislauf.
Oliver Lenzen, «Das grosse Buch vom Sand. Die Vielfalt im Kleinen», Haupt