Die USA haben gewählt. Letzten Dienstag fanden dort die Midterms statt, die Zwischenwahlen zur Halbzeit jeder vierjährigen Präsidentschaft. Sie sind jeweils ein Stimmungstest, wie der aktuelle Präsident ankommt. Viele nutzen deshalb ihren Wahlschein als Denkzettel. Zankmittel müsste er inzwischen heissen, spätestens seit Donald Trump (76) das politische Klima vergiftet hat. Ums Denken geht es seither nicht mehr, auch letzten Dienstag nicht.
«Mein wütendes Land» heisst das eben erschienene Buch des US-Journalisten Evan Osnos (45). Der Redaktor des renommierten Magazins «The New Yorker» kehrt 2013 nach zehn Jahren als Korrespondent aus dem Nahen Osten und aus China in seine Heimat zurück und erkennt das Land nicht wieder. Osnos will dem Befremden auf den Grund gehen und macht «eine Reise durch die gespaltenen Staaten von Amerika», wie das Buch im Untertitel heisst.
Chicago, Greenwich (Connecticut) und Clarksburg (West Virginia) sind seine Stationen: die Millionenmetropole, wo seine Familie herkam, der Reichenvorort New Yorks, wo er aufwuchs, und die Kleinstadt, in der Osnos seinem ersten Job als Journalist nachging. Überall trifft er Menschen, anhand derer er die grossen Veränderungen in der politischen Kultur zwischen dem 11. September 2001 (Anschläge in New York) und dem 6. Januar 2021 (Erstürmung des Kapitols) nachzeichnet. Ein Drama über 20 Jahre.
«Wenn die Geschichte der Vereinigten Staaten eine Geschichte des unablässigen Ausbalancierens ist – zwischen Gier und Grosszügigkeit, Industrie und Natur, Identität und Assimilierung», schreibt Osnos, «so war das Land derart aus dem Gleichgewicht geraten, dass es seinen Schwerpunkt verloren hat.» Nach der Wahl von Trump 2016 habe sich der allgemeine Fokus auf die «Abgehängten» gerichtet. «Aber die bessere Erklärung für die Ungleichheit war, dass die Reichen vorausgeeilt waren», so Osnos.
In Windeseile fliehen Milliardäre mit ihrem Vermögen vor staatlichen Strukturen. «Viele vermögende Personen verteidigen Steuervermeidung mit dem Argument, sie täten lediglich, was gesetzlich erlaubt sei», schreibt Osnos und gibt zu bedenken: «Es wurden grosse Anstrengungen unternommen und hohe Summen investiert, um die Gesetze zum Vorteil der Reichen umzuschreiben.» Womit wir wieder bei den Midterms wären, an denen es um die Neubesetzung der gesetzgebenden Gewalt mit Repräsentantenhaus und Senat geht.
Wer Wahlchancen haben will, braucht immer mehr Geld, wie Osnos vorrechnet: Bei den Midterms 2014 brauchte ein Kandidat für einen Sitz im Repräsentantenhaus ein doppelt so grosses Budget für den Wahlkampf wie einer, der für die Midterms 1986 antrat. Und so entstehen weitere Gesetze für Reiche, und die Ungleichheit wächst. Was wiederum Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, wie eine Studie aus Yale zeigt: «Ungleichheit macht die Menschen weniger kooperativ und unfreundlicher.»
Evan Osnos, «Mein wütendes Land – eine Reise durch die gespaltenen Staaten von Amerika», Suhrkamp