Der französische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) schrieb, «dass alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich, dass sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können». Dieser Spruch steht plakativ über dem Film-Still aus «Safety Last!» (1923): Die Szene zeigt US-Komiker Harold Lloyd (1893–1971), wie er sich verzweifelt am Zeiger einer Wolkenkratzer-Uhr hält, hoch über den Strassen von New York baumelnd. Dieses Poster aus meiner Studentenzeit hängte ich während des Lockdowns ans Homeoffice.
«‹Bleibefreiheit› habe ich das probeweise genannt», schreibt die deutsche Philosophin Eva von Redecker (41), der die Pandemie eine Vortragsreise in die USA verunmöglichte. Das sei natürlich paradox: «Wieso sollte man angesichts eines vereitelten Flugs von Freiheit sprechen?» Sie machte es trotzdem und veröffentlicht nun ein anregendes Buch mit dem Titel «Bleibefreiheit». Der Freiheitsbegriff, der seit Thomas Hobbes (1588–1679) das Fehlen von Bewegungshindernissen beinhaltet, denkt von Redecker ganz neu.
Unter Freiheit versteht man landläufig die Möglichkeit zu reisen – das war 1989 die Bedeutung in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, das war letztes Pfingstwochenende das Verständnis in der Schweiz auf dem Weg ins Tessin: sich frei von Ort zu Ort zu bewegen. Nicht zufällig nannte sich die rechte Auto-Partei zwischenzeitlich Freiheits-Partei der Schweiz: Freie Fahrt für freie Bürger – auch wenn man dabei in der Blechkarosse in kilometerlangen Staus vor dem Gotthardtunnel gefangen bleibt.
Von Redecker stellt diesem räumlichen Denken ein zeitliches Konzept gegenüber. «Die Verzeitlichung der Freiheit bedeutet zunächst schlichtweg, dass freier ist, wer mehr Lebenszeit hat», schreibt sie. Wie könne es nicht so sein – je länger man die Möglichkeit habe, Dinge zu tun, desto grösser die Freiheit. Wer nicht von einem Ort zum anderen hetzen muss, gewinnt plötzlich Zeit – eine Erfahrung, die viele während des Lockdowns zum ersten Mal machten, als alles stillstand.
«Mein Vorschlag, vom Bleiben aus über Freiheit nachzudenken, verlagert die Freiheit von der räumlichen in die zeitliche Dimension», so von Redecker, die als Wissenschaftlerin in Berlin, New York und Cambridge arbeitete. Heute lebt sie als Autorin im ländlichen Brandenburg. Räumlich verstanden bedeute «Bleiben» Stagnation, in zeitlicher Hinsicht verspreche es immerhin Fortdauer. Wie gross die Sehnsucht danach ist, belegen nur schon all die aktuellen Popsongs, in denen es ums Bleiben geht.
Von Redecker erkennt auch einen Anklang in grundlegenden politischen Forderungen der Gegenwart. «Gegen den Kohletagbau wird mit ‹Alle Dörfer bleiben› und für den Wald mit ‹Danni bleibt›, ‹Moni bleibt› oder ‹Fechi bleibt› mobilisiert», schreibt sie. «Wir bleiben alle» sei die Kampfansage gegen Gentrifizierung und Verdrängung aus der Stadt. Und gegen die Abschiebung von Geflüchteten stehe die Forderung nach sicherer Bleibe.
Eva von Redecker, «Bleibefreiheit», S. Fischer
Eva von Redecker, «Bleibefreiheit», S. Fischer