Kennen Sie die Heisenbergsche Unschärferelation? Vereinfacht umschrieben besagt die: Wenn ich im Dunkeln mit einem Stab am Boden – zum Beispiel unter dem Bett – herumstochere und dadurch eine Kugel berühre und bewege, lässt sich zwar bestimmen, wo ich sie berührt habe, nicht aber, wohin sie danach gerollt ist. Genau so verhält es sich mit Schubladen im Pult oder in der Küche: Fein säuberlich geordnet schiebt man sie zu, doch wie sie sich beim nächsten Herausziehen präsentieren, lässt sich nicht sagen.
«Schon das Zuschieben der Schublade bewirkt, dass sich die mühsam separierten Gegenstände wieder in Bewegung setzen, untereinander unerwünschte Koalitionen schliessen und alle Bemühungen sabotieren», schreibt Christian Begemann (68), deutscher Germanistikprofessor im Ruhestand, in seinem neulich erschienenen, hübschen Büchlein. Wie man es auch anstelle, die Schublade erweise sich allzu oft nicht als Ordnungselement, sondern vielmehr als Chaostreiber in der Ordnung.
Die Schublade und den Schubladenschrank («Armarium») gab es bereits in der Antike. «Man kennt sie von Reliefs, wie etwa der Abbildung des Verkaufsstands eines Messerhändlers aus der Galleria Lapidaria im Vatikan», schreibt Begemann. Oder aus dem vom Vesuv verschütteten Herculaneum in der Nähe von Neapel (I), wo sich ein verkohlter zweitüriger Kasten mit Schublade erhalten habe. Im alten China und Japan gab es ebenfalls schon Schränke mit Schubladen.
«Ihren eigentlichen Siegeszug treten Schubladen zunächst wohl weniger in Privathaushalten an als in Sammlungen, Bibliotheken und Apotheken», schreibt Begemann – Schubladen als «Container des kulturellen Wissens». Von hier aus beziehe die Metapher rund um die Schublade ihre negative Färbung, insbesondere die des Schubladendenkens. Friedrich Nietzsche (1844–1900) schreibt von «Büreauschreibern», die «vielfältiges Material (…) in Schubfächer vertheilen» und «ein Problem (…) damit für gelöst halten».
Literaturwissenschaftler Begemann legt sein Hauptaugenmerk auf das, was insbesondere Frauenfiguren in Romanen und Theaterstücken häufig schubladisieren: Liebesbriefe. Ein zentrales Motiv sind sie in epochalen Werken wie «Anna Karenina» (1877) des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi (1828–1910) oder «Effi Briest» (1895) des deutschen Autors Theodor Fontane (1819–1898) – in beiden Büchern sind die Briefe der Beweis für die eheliche Untreue der Titelheldinnen.
Am Ende wagt Begemann einen witzigen Ausflug in die Welt der Comics: In «Die Geschichte von Onkel Dagoberts Bett» (1963) zeigt Zeichner Carl Barks (1901–2000), wie der später stinkreiche Dagobert als Kind in einer Schublade schlafen musste. Zu Geld gekommen, schafft er sich immer grössere und stets unbequemere Betten an – bis er schliesslich wieder in der Schublade nächtigt. «So entbindet die Schublade hier eine eigenwillige, weil völlig individualistische kleine Geschichte des Kapitalismus und seines Scheiterns», so Begemann.
«Kleine Poetik der Schublade», Konstanz University Press.
«Kleine Poetik der Schublade», Konstanz University Press.