Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Menschen marschieren gern in Massen

«Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arme es will», heisst es kämpferisch im Arbeiterlied. Doch Massen kommen ins Rollen, wenn es starke Beine wollen, wie dieses Buch über Menschenzüge eindrücklich zeigt.
Publiziert: 14.03.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 12.03.2023 um 09:50 Uhr
Menschen marschieren gerne gemeinsam, wie hier an der 1.-Mai-Demonstration 2022 in Zürich.
Foto: keystone-sda.ch
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Defilieren, marschieren, promenieren oder demonstrieren: Wir Schweizerinnen und Schweizer sind ein geordnetes und geselliges Volk, das gerne gemeinsam in grösseren Gruppen geht. Militärparade, Morgestraich, Sechseläuten oder Kundgebung – der Möglichkeiten sind viele, zu denen wir uns treffen und zusammen eine Richtung einschlagen können. Auch wenn wir uns über Dichtestress und 9-Millionen-Schweiz beklagen: Eigentlich mögen wir Massen – solange wir unter uns sind.

«Massen in Bewegung» heisst das passende Buch vom deutschen Germanisten Karl-Heinz Göttert (80), das er kürzlich veröffentlicht hat. Darin belegt der emeritierte Professor, dass Menschenzüge ein weltumfassendes Phänomen sind, das zeitlich in der Jungsteinzeit anfing und bis zu den Protestmärschen von Friday for Future und Corona-Leugnern reicht. Göttert will mit diesem Buch «eine Art Evolution des gemeinsamen Gehens» vorlegen – ein Vorhaben, das ihm meisterlich gelingt.

Dabei mutet die Ausgangslage recht abenteuerlich an: Göttert will die römischen Paraden, christliche Prozessionen und Pegida-Proteste als eine Einheit sehen. Doch was, bitte schön, haben Militär, Religion und Wutbürger gemeinsam? «Wenn es etwas Überzeitliches, eine Universalie beim gemeinschaftlichen Gehen geben sollte», schreibt er, «dann die: dass ‹Überzeugung›, ‹Wahrheit› immer auch etwas mit der Zahl derer zu tun hat, die sie vorbringen oder vertreten.»

Göttert beginnt seine Darlegung mit einem Menschenaufmarsch, der alles vereint: militärische Ordnung, religiöse Feierlichkeit und politische Forderung. Am 3. März 1913, zur Amtseinführung von US-Präsident Woodrow Wilson (1856–1924), formierten sich rund 5000 Frauen in Washington D. C. und forderten für sich das Wahlrecht. «Neun Musikkapellen, darunter trompetende Frauen, waren beteiligt, vier Reiterabteilungen, zwei Dutzend Schauwagen und Transparente, die auch als Spruchbänder mitgeführt wurden», so Göttert.

Demonstrationen mögen seit 2000 weniger durchorchestriert sein, weniger an der Zahl sind sie keineswegs. Ganz im Gegenteil: Die Häufung veranlasste das US-Magazin «Time» am 26. Dezember 2011, den «Protester» zur «Person des Jahres» zu erklären, denn damals reichten Demonstrationen «vom Arabischen Frühling bis Athen, von Occupy Wall Street bis Moskau». Göttert: «All dies gehörte zu weiteren Protesten in 900 Städten und in 80 Ländern der Erde.»

Der Arabische Frühling ist verwelkt, die Wall Street längst nicht mehr besetzt und Moskau geknechtet unter der Knute von Putin. Haben Massenaufläufe heute ausgedient? Der deutsche Sprachwissenschaftler beschwichtigt und sieht nur eine vorübergehende Schwäche. «Menschenzüge kennen vielleicht Konjunkturen, aber keine zeitlichen Grenzen – und räumliche auch nicht», schreibt Göttert. Es gebe die Kraft der Massen, die auf die Strassen gingen. «Und sie gehen immer noch.»

Karl-Heinz Göttert, «Massen in Bewegung. Über Menschenzüge», Die Andere Bibliothek

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