Krankheit, Krieg, Klima: Kein Zweifel, die Erde ist aktuell in einer Krise. Im Mittelalter stellte sich der Dichter Walther von der Vogelweide (1170–1230) die Welt als eine weibliche Person vor: «Fro welt» war ein Sinnbild für Verführung und Vergänglichkeit. In der bildenden Kunst – etwa als Steinfigur am Wormser Dom – sieht «Frau Welt» deshalb von vorne betörend schön aus, doch ihr Rücken ist voller Eiter, Ungeziefer, Kröten und Schlangen: ein sterbender Körper, ein Sinnbild für die Krise.
«Krise, ursprünglich aus der Medizin stammend, bezeichnete dort den dramatischen Zeitpunkt zwischen Leben und Tod», schreibt der deutsche Geschichtsprofessor Ewald Frie (60) in «Krisen anders denken». Diesen Sammelband mit über 30 Beiträgen zu Bedrohungen der Menschheit seit der Antike bis zur Gegenwart hat Frie zusammen mit seinem Tübinger Fachkollegen Mischa Meier (51) herausgegeben. Es ist eine Handreichung, um aus der Geschichte lernen zu können.
«Lasst uns Krisen anders denken, indem wir ernst nehmen, dass sie als Bedrohung vorgestellt, empfunden, begriffen werden», beginnen die beiden das Buch weihevoll, als wärs ein Gebet. Bedrohungen seien Selbstalarmierungen aus Ordnungen heraus. Sie entstehen dadurch, dass sich Menschen etwas schnell, laut und eindrücklich mitteilen: eine Himmelserscheinung, einen herannahenden Sturm, eine Gruppe von Menschen, ein Virus, einen militärischen Angriff.
Dieses Alarmieren, das im Internetzeitalter vom fürsorglichen Hinweis bis zum gehässigen Kommentar reichen kann, war früher nicht anders, es lief bloss über andere Kanäle als die sozialen Medien. «Wie im späten Mittelalter waren auch in der Frühen Neuzeit Predigten ein höchst effizientes Mittel der Kommunikation», schreibt der italienische Historiker Michele Camaioni (40) in seinem Beitrag über den in Augsburg wirkenden protestantische Prediger Bernardino Ochino (1487–1564). Er orchestrierte den Hass gegen die Katholiken.
So wie das Aufwiegeln keine Erfindung der sozialen Medien ist, so ist der Fachkräftemangel kein neues Phänomen. Im Rom des Jahres 375 n. Chr. gab es eine Lebensmittelknappheit und Hungertote. Schnell kam die Forderung auf, Nicht-Römer auszuweisen, wovor der Stadtpräfekt eindringlich warnte, weil dann agrarische Arbeitskräfte fehlen würden: «Wenn diese fehlen, müssten wir dann an ihrer Stelle nicht andere Ackersleute auftreiben?» Unkundig und andersartig würden die nicht die gleiche Leistung erbringen.
In Augsburg kam es erst zum Frieden, nachdem die Koexistenz von Katholizismus und Luthertum durch eine rechtliche Grundlage garantiert war. In Rom entschärfte man das Problem durch Verschränkung verschiedener Strategien, «mal Bedingungen und Anreize schaffen, um Arbeitskräfte anzuziehen oder zu halten, mal Zwang ausüben durch Verschärfung längst bestehender Freizügigkeitsbeschränkungen». Man kann eben doch aus der Geschichte lernen.
«Krisen anders denken – wie Menschen mit Bedrohungen umgegangen sind und was wir daraus lernen können», Propyläen
«Krisen anders denken – wie Menschen mit Bedrohungen umgegangen sind und was wir daraus lernen können», Propyläen