Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Erste Biografie über Oliver Sacks

Oliver Sacks (1933–2015) ist einer der meistgelesenen Wissenschaftler. In dieser ersten Biografie über ihn erfährt man vieles über seinen schwierigen Spagat zwischen Arzt und Artist.
Publiziert: 10.08.2021 um 09:49 Uhr
Robin Williams (l.) als Neurologe Dr. Malcolm Sayer und Robert De Niro als Patient Leonard Lowe in «Awakenings».
Foto: imago images / United Archives
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Meine Theatererweckung hatte ich 1994: Damals bringt der britische Bühnenmagier Peter Brook (96) «The Man Who» in Zürich zur Aufführung – ein hypnotisierendes Episodenstück nach dem Buchbestseller «The Man Who Mistook His Wife for a Hat» (1985) (dt.: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte). Darin beschreibt der britisch-amerikanische Neurologe Oliver Sacks (1933–2015) Patientenschicksale aus seinem Arbeitsalltag. Theater über Krankheitsfälle, geht das? Und wie! Bereits die Verfilmung von Sacks’ erstem Bestseller «Awakenings» (1973) mit Robert De Niro (77) und Robin Williams (1951–2014) ist 1990 ein Kinokassenschlager.

«Awakenings», das Buch über die kurzzeitig erfolgreiche Therapie von Schlafkranken mit einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin, weckt beim späteren «New Yorker»-Autor Lawrence Weschler (69) das Interesse am Nervenarzt. «Zum ersten Mal hörte ich von Oliver Sacks 1974», schreibt Weschler in seiner kürzlich erschienenen Biografie «Oliver Sacks». Die beiden befreunden sich und begegnen sich regelmässig. «Wir trafen uns zwei oder drei Abende die Woche zum Dinner», so Weschler. 15 Notizhefte voller Interviews hat er danach. Kurz vor Sacks' Krebstod, ausgehend von einem Augentumor, ruft er Weschler an und gibt ihm den Segen zu dieser «biografischen Annäherung».

«Ein persönliches Porträt», wie es im Untertitel heisst, ist das voluminöse Buch tatsächlich – manchmal zu persönlich und zu detailliert. So erfahren wir, in welchen Restaurants die beiden was essen gehen und dass sich Sacks vor einer nächsten Aussage das Glas mit Wasser füllt. Wir lesen aber auch Wesentliches über Sacks: über prügelnde Internats-Lehrer im Teenageralter, das Outing als Homosexueller mit 21, die entsetzte Mutter danach, tollkühne Fahrten mit dem Motorrad, Streitereien mit anderen Neurologen und die Missgunst nach seinem Erfolg mit «Awakenings».

Ein Wissenschaftler, der klar und kunstvoll schreiben kann, ist in seiner Fachwelt verdächtig. Literaten schliessen Sacks dafür in die Arme: Susan Sontag (1933–2004) nennt ihn einmal «einen der besten lebenden Schriftsteller englischer Sprache». Sacks war ein belesener Mann. «Goethe hat schon recht, wenn er seinen Faust sagen lässt: ‹Grau, teurer Freund, ist alle Theorie … und grün des Lebens goldner Baum.›», zitiert Weschler Sacks in der Biografie. Und lässt ihn sein eigenes Verständnis vom Schreiben erklären: «Daher muss ich meinen Büchern unbedingt das Grün und Gold der Phänomenalität mitgeben.»

Grün und gelb ärgert sich Sacks dagegen über einen anderen deutschen Schriftsteller: «Ich habe den ‹Zauberberg› gelesen», sagt Sacks zu Weschler. «Thomas Mann geht mir zunehmend gegen den Strich – er ergreift Partei für die Krankheit.» Er schreibe über Pathologie und nenne sie Leben. Normalität werde kaum jemals anders als eine Form von Stumpfheit dargestellt. «Nichts macht mich so wütend wie die Philosophie der Morbidität», sagt Sacks. Denn bei aller Liebe zur Literatur versteht er die Patienten nicht bloss als Geschichtenlieferanten. Er bleibt in erster Linie Arzt – und dessen Ziel ist die Heilung der Menschen.

Lawrence Weschler, «Oliver Sacks – ein persönliches Porträt», Rowohlt

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