Hirsch, Vögel und eine Menge Leuchtzahlen: «Das philosophische Ei» heisst die Lichtinstallation des italienischen Künstlers Mario Merz (1925–2003), die seit 1992 in der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs über den Köpfen der Passanten schwebt. Die spiralförmig angeordneten Zahlen geben die sogenannte Fibonacci-Folge wieder: 1, 2, 3, 5, 8, 13 … zwei Zahlen addiert ergeben die jeweils nächste. Der italienische Mathematiker Leonardo von Pisa beschrieb damit im «Liber abbaci» (1202) die Entwicklung einer Kaninchenpopulation.
«Der Autor dieses einflussreichen Rechenbuchs wurde um das Jahr 1170 herum in die Pisaner Familie Bonacci hineingeboren», schreibt Thomas de Padova in seinem kürzlich erschienenen Buch. «Die Nachwelt kennt ihn daher auch unter dem Namen Fibonacci, abgeleitet von ‹de filiis Bonacci›, ‹aus dem Geschlecht der Bonacci›.» Fibonacci war seiner Zeit weit voraus und beschreibt im «Liber abbaci» auch, dass mit den «neun Figuren und dem Zephirum jede beliebige Zahl geschrieben werden kann».
Gemeint sind die indisch-arabischen Zahlen 1 bis 9 und die 0. Die Römer mögen uns ihr Alphabet vermacht haben, mit dessen Buchstaben auch dieser Text geschrieben steht. Die römischen Zahlen seien aber fürs Rechnen völlig ungeeignet, so de Padova: «Sie taugen dazu, Daten und Ergebnisse zu fixieren (…) und liessen sich wunderbar in Stein meisseln.» Der deutsche Physiker und Astronom vermutet denn auch, dass sich unser Wort «Zahl» vom germanischen «tala» für «Kerbe» ableitet.
Doch eine Kerbe lässt sich nicht so schnell auswetzen. Und so tun sich die Europäer lange schwer mit den arabischen Zahlen. «Diejenigen, die erstmals mit ihnen in Berührung kommen, irritiert am meisten, dass hinter der Schreibweise 1, 2, 3 … keinerlei Logik zu erkennen ist», schreibt de Padova. «Dagegen sieht man den römischen Zahlen I, II, III bis X ihre Abkunft sofort an: Sie sind aus den Einritzungen auf Kerbhölzern hervorgegangen.» Deshalb vergehen Jahrhunderte, bis die indisch-arabischen Zahlen Schule machen.
Die Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert war es, die die Mathematik neu erfand, wie es im Untertitel dieses Buchs heisst. «Ihr Aufschwung während der Renaissance verdankte sich nicht so sehr der Höchstleistung Einzelner, sondern dem Aufbruch vieler», so de Padova. «Universalgelehrte und Kaufleute, Maler und Architekten, Ärzte und Theologen entdeckten ihre Begeisterung für Rechenkunst und Geometrie.» Einige Namen sind aber bis heute berühmt, etwa der Italiener Leonardo da Vinci (1452–1519) oder der deutsche Maler Albrecht Dürer (1471–1528).
«Deutsch-italienische Innovationen» nennt de Padova den Treiber, der dem rückständigen europäischen Kontinent in der Renaissance eine Vielzahl an Neuerungen bringt. «Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist die freie Zirkulation des Wissens», schreibt der Wissenschaftsjournalist. «Und zwar nicht nur durch Briefe, Handschriften und Bücher.» Es werde von den Menschen selbst weitergetragen, von fahrenden Kaufleuten, wandernden Handwerkern, umherziehenden Geistlichen und Gelehrten. Eine Lehre für die heutige Zeit!
Thomas de Padova, «Alles wird Zahl – wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand», Hanser