1977 bin ich elf und verreise im Frühling mit den Eltern erstmals nach Spanien, bekomme im Sommer nach einer nächtlichen Mutprobe meinen Pfadinamen und böötle anschliessend in den Ferien auf dem Bielersee. Und der Basler Historiker Philipp Sarasin (64)? «Im April 1977 war ich ein paar Tage in London und brachte das Kunststück fertig, nichts von der Punk-Explosion mitzubekommen», schreibt er in seinem eben erschienenen Buch. «Im Sommer reiste ich mit einem Freund sechs Wochen lang durch die Türkei, weitgehend abgeschnitten von allen Nachrichten.» Alles nicht weltbewegend.
Dabei ist 1977 ein ereignisreiches Jahr: US-Schriftstellerin Anaïs Nin (†73) stirbt, ebenso der deutsche Philosoph Ernst Bloch (†92) und der amerikanische King of Rock ‘n‘ Roll Elvis Presley (†42); andererseits eröffnet in Paris das Centre Georges-Pompidou, in Kalifornien lanciert Steve Jobs (1955–2011) den Computer Apple II, und in der BRD startet die linke Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) die «Offensive 77», die mit der Erschiessung von Hanns Martin Schleyer (†62) als blutiger «deutscher Herbst» in die Geschichtsbücher eingeht.
Ende und Anfang: Der in Zürich lehrende Geschichtsprofessor Sarasin stellt 1977 als Umbruch dar – mit Auswirkung bis ins Heute. Denn wie heisst es in seinem grossartigen Onlinemagazin geschichtedergegenwart.ch: «Die Gegenwart entsteht aus all ihren Vergangenheiten, die nicht abgeschlossen sind.» Andere Historiker sehen 1973, das Jahr der Ölkrise, oder 1979, das Jahr der islamischen Revolution im Iran, als Zeitenwende. «Meine Analyse zielt, im Gegensatz dazu, weniger auf grosse, gar weltpolitische Ereignisse», so Sarasin, «als vielmehr auf die tiefen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen wissenschaftlichen und technologischen Verschiebungen und Brüche.»
Die Hauptbewegung geht 1977 vom Wir zum Ich: Sarasin erkennt «die Schwächung des modernen Allgemeinen und den Aufstieg der ‹postmodernen› beziehungsweise ‹spätmodernen› Singularität». Er erkennt das exemplarisch im Punksong «I Wanna Be Me» der Sex Pistols, in der nach innen gerichteten New-Age-Bewegung aber auch im aufkommenden Neoliberalismus. «Zu dieser Wende hin zum eigenen ‹Selbst› passte durchaus, dass 1977 in den USA der Personal Computer in Gestalt vor allem des Apple II auf dem Markt erschien, konzipiert als Selbstermächtigungsinstrument», schreibt Sarasin.
Die Kombination von Identität, freier Konsumwahl und der Technologie des Internets – darin sieht Sarasin das Vermächtnis jenes Jahres. «Das Erbe von 1977 ist in diesem Sinne von tiefer Ambivalenz geprägt», schreibt er. «Der Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion, die nicht zuletzt durch die digitale Revolution freigesetzte Pluralität der Stimmen und die im ‹Netz› sichtbare Vielfalt der Perspektiven können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.» Doch das gelte auch für den Preis, den wir dafür bezahlen.
Philipp Sarasin, «1977 – eine kurze Geschichte der Gegenwart», Suhrkamp