Die Wahrheit übers Lügen liegt irgendwo zwischen 2 und 200. So oft flunkern Sie oder ich gemäss verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen an nur einem Tag – Ehrenwort! «Jeder Mensch lügt pausenlos», sagte mir auch der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky (76) vor ein paar Jahren in einem Interview zu seinem Roman «Der Stotterer», in dem es um einen schreibenden Meisterlügner geht. Ist Lewinsky selber einer? Aber ja doch!
«Dürfen Dichter lügen?», fragt der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann (69) in seinem eben erschienenen Buch «Lauter Lügen» und gibt gleich die Antwort: «Sie dürfen nicht nur, es ist ihr Geschäft.» Der emeritierte Professor der Universität Wien veröffentlicht im Sammelband über 80 Essays, Kolumnen und Glossen, die er zwischen 2016 und 2022 vornehmlich für die «Neue Zürcher Zeitung» und die österreichische «Kleine Zeitung» geschrieben hat.
«Jedes Wort ist eine Verkürzung, jeder Satz eine Deutung, jedes sprachliche Bild eine poetische Fiktion, jede Beschreibung bestenfalls eine Annäherung, wenn nicht eine glatte Erfindung», schreibt der Philosoph. Heisst das, dass wir die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Fakten und Fiktion aufgeben sollten? «Mitnichten», so Liessmann. Er plädiert aber für mehr Gelassenheit im Umgang mit Fake News, Meinungsblasen und Verschwörungstheorien.
«Verschwörungstheorien nicht nach ihrem Wahrheitsgehalt – das bringt wenig –, sondern nach ihrem künstlerischen Potential zu betrachten, nähme ihnen die politische Spitze, ohne sie im empörten Ton moralisierender Besserwisserei verurteilen zu müssen», schreibt Liessmann. Man sähe dann schnell, dass manche in ihrem Aufwand und ihrer Raffinesse das Zeug zu einem guten Thriller oder abgründigen Roman hätten. Das sei aber nur eine Handreichung für Menschen, die nicht für Verschwörungstheorien anfällig seien.
Verschwörungstheoretiker sind in der Regel keine humorvollen und verspielten Naturen und sehen in ihren kruden Konstrukten die nackte Wahrheit, die es wie ein religiöses Dogma als einzige zu befolgen gelte. Doch die nackte Wahrheit gab es bloss für Ahnungslose im Paradies, wie wir aus der biblischen Erzählung wissen: Sobald Adam und Eva in den Apfel vom Baum der Erkenntnis bissen, wurden sie sich der Nacktheit gewahr, schämten sich ihrer Blösse und deckten die mit einem Feigenblatt zu.
«Die Nacktheit suggeriert jene Eindeutigkeit, nach der sich unsere Gegenwart, die es verlernt hat, mit Mehrdeutigkeiten umzugehen, verzehrt», schreibt Liessmann. Aber ist einfache, nackte Wahrheit überhaupt erstrebenswert? Der Philosoph zweifelt: «Öffentliche Versammlungen von Nacktheit offenbaren ein unangenehmes Geheimnis», schreibt er, «der durchschnittliche nackte menschliche Körper ist nämlich eher unansehnlich.» Ihn vor den Blicken anderer zu verbergen, könne auch als Gebot der Höflichkeit und Rücksichtnahme gewertet werden.
Konrad Paul Liessmann, «Lauter Lügen – und andere Wahrheiten», Zsolnay