Wir sind alle von irgendwo her, nur nicht von dort, wo wir gerade stehen – denn ursprünglich sind wir alle Einwanderer aus Afrika. «Die Geschichte der Menschheit beginnt mit einem Schritt», schreibt der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna (43) in seinem Buch «Move». «Die ersten aufrecht gehenden Geschöpfe setzten vor knapp zwei Millionen Jahren ihren Fuss auf afrikanischen Boden und überschritten irgendwann in der Region zwischen dem heutigen Roten Meer und der Sinai-Halbinsel eine Landbrücke nach Eurasien.»
So gesehen sind die Afrikaner, die neulich über die spanische Exklave Ceuta nach Europa zu gelangen versuchten, nichts anderes als unsere Nachzügler. «Es ist eine Tatsache, dass es noch nie einen Status quo gab, an dem die Menschheit stillstand, bereitwillig beschränkt auf vorher festgelegte Landesgrenzen», so Khanna, «und einen solchen Status quo wird es auch nie geben.» Die letzten Jahrzehnte hätten weitere Anreize für Migration geliefert, Bürgerkriege und das Scheitern von Staaten hätten beträchtliche Flüchtlingswellen ausgelöst.
«Alpine Oasen» bezeichnet Khanna die an den europäischen Gebirgszug grenzenden Länder, denn sie «profitieren von den saubersten Wasserreserven der Welt». Hierhin ziehe es viele Flüchtlinge, so der CNN-Experte für Globalisierung, «aber die Schweiz und Österreich sind auch eine Festung». Durch Populismus und Pandemie seien viele Grenzen undurchdringlicher geworden, doch der Klimawandel werde immer mehr Menschen dazu bringen, sie zu überwinden.
Vom Süden in den Norden strömen die Menschen wegen versiegender Flüsse und ausgetrockneter Äcker; von den Küsten ins Innere der Kontinente ziehen sie wegen der Eisschmelze und des steigenden Meeresspiegels. «Im Laufe der Jahrzehnte werden Dutzende neuer Städte in vormals unbesiedelten Gebieten entstehen», schreibt Khanna. «Eine weitere Erkenntnis lautet, dass Orte, die gestern verlassen wurden, schon morgen wiederbelebt werden können.» So war die Schweiz noch im 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland.
Die Zivilisation 1.0 sei nomadisch und landwirtschaftlich gewesen, die Zivilisation 2.0 sesshaft, aber die «Zivilisation 3.0 wird mobil und nachhaltig sein müssen». Bisher habe man Rohstoffe zu Menschen gebracht, was katastrophale Umweltschäden angerichtet habe; heute müsse man Menschen zu Rohstoffen bringen, ohne Letztere dabei zu vernichten. Die Migration als letzte Chance.
«Welche Fähigkeit ist die wichtigste für den eigenen Erfolg?», fragt Khanna, der in den Vereinigten Arabischen Emiraten, den USA und in Deutschland aufwuchs und heute in Singapur lebt. «Mehr denn je lautet meine Antwort darauf: Welche Fähigkeiten Sie auch immer haben, sorgen Sie dafür, dass Sie beweglich sind. Seien Sie bereit, den Ort zu wechseln.» Der wichtigste Reisepass der Zukunft werde Kompetenzen und Gesundheit dokumentieren, nicht die Staatsangehörigkeit.
Parag Khanna, «Move – das Zeitalter der Migration», Rowohlt Berlin