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Eine Liebeserklärung an die Autobahnraststätte

«Wer rastet, der rostet», sagt der Volksmund. Nirgendwo trifft das besser zu als auf Autobahnraststätten, wo Fahrer mit ihren Metallgefährten möglichst kurz haltmachen. Dieser Ort ist ein Sinnbild für unsere Beschleunigungsgesellschaft.
Publiziert: 04.04.2021 um 10:26 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2021 um 16:16 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Raststätte Gotthard bei Schattdorf UR, San Gottardo Sud bei Quinto TI, Raststätte Bellinzona TI, Raststätte Coldrerio TI: Dieses Osterwochenende rasen wieder viele an diesen Verpflegungsstationen vorbei Richtung Süden, später zurück nach Norden und legen dort nur zur Not einen Stopp ein. Denn Raststätten «gelten als leidlich funktionale Nicht-Orte, wo man in der Regel nur haltmacht, wenn es die Leere des Tanks oder die Fülle der Blase unbedingt erfordern», wie es Florian Werner (50) in seinem kürzlich erschienenen Buch «Die Raststätte – eine Liebeserklärung» beschreibt.

Eine Liebeserklärung an einen Unort? Wenn einer das schafft, dann der Berliner Schriftsteller Werner, der sich gerne mit verachteten Randerscheinungen beschäftigt.
So veröffentlichte er schon Bücher mit den Titeln «Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheisse» (2011), «Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft» (2012) und «Verhalten bei Weltuntergang» (2013). Zudem publizierte er «Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung» (2009) sowie «Schnecken. Ein Portrait» (2015).

Nun also «Die Raststätte – eine Liebeserklärung». Knapp 50 gibt es in der Schweiz, die bekanntesten sind der «Fressbalken» im aargauischen Würenlos oder das gewölbte Betondach im solothurnischen Deitingen. Rund 450 hat der Deutsche Werner in seiner Heimat als Anschauungsobjekte zur Verfügung. Mehr als eine halbe Milliarde Autofahrende machen dort jährlich halt, «damit haben sie deutlich mehr Besucher als der Kölner Dom, das Brandenburger Tor und das Oktoberfest zusammen», so Werner.

«Die Raststätte ist per definitionem jener Ort, wo man als Reisender nicht hinwill», schreibt Werner. «Die ganze Anlage vibriert von dieser Grundunruhe, diesem Bedürfnis nach Rückkehr in die Beschleunigungsgesellschaft. Schnell tanken, schnell pinkeln, schnell einen Coffee-to-go kaufen, dann schnell weiter. Weg. Und zwar alle in eine Richtung.» Der Autofahrende sei dort niemals ganz in der Gegenwart, sondern habe stets ein Ziel vor Augen, dessen Erreichen notwendigerweise, auch zeitlich gesehen, vor ihm liegt.

Anders als bei Landstrassen oder gar Wanderpfaden liegen bei Autobahnen keine historischen Gasthäuser oder Hotels am Wegesrand. «Die Raststätten füllen diese Lücke, bleiben dabei aber, im doppelten Wortsinn, auto-nom», schreibt Werner, «vom Auto bestimmt sowie umgebungsunabhängig.» Mit dem französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984) könnte man sagen: Es handelt sich bei Raststätten um Heterotopien, also um «andere Räume» oder «Gegenräume».

Andere Räume, andere Träume: Werner berichtet im Buch liebevoll von LKW-Fahrern und Flaschensammlern, von einem Raststättenbetreiber, der den Autolärm liebt, und einem Botaniker, der sich von Pflanzen am Parkplatzrand ernährt. Und er windet der Raststätte schliesslich selber ein Kränzchen in Form eines schönen Gedichts, das mit folgenden zwei Zeilen schliesst: «Ach, lass sie dich verschmähen, lass sie weiterhasten; / Ich will dich sehen, riechen, hören! Will hier rasten.»

Florian Werner, «Die Raststätte – eine Liebeserklärung», Hanser Berlin

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