Zoologisch – Zoodirektor Severin Dressen erklärt
Lieblingsplatz statt Lieblingstier

Zoodirektor Severin Dressen nimmt uns mit an seinen Lieblingsplatz im Zoo und erklärt, wieso dieser Ort ihm so wichtig ist.
Publiziert: 07.05.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2023 um 18:14 Uhr
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Das Blätterdach im Zoo Zürich.
Foto: FABIO SUEESS
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Severin DressenDirektor des Zoo Zürich

«Herr Dressen, welches ist Ihr Lieblingstier?» Diese Frage wird mir immer wieder gestellt. Ein solches habe ich ehrlich gesagt nicht. Was ich aber habe, ist einen Lieblingsplatz im Zoo. Auf dem Turm im Masoala-Regenwald, der noch immer fast alle Baumwipfel überragt und einen wunderschönen Panoramablick ermöglicht. Die beste Zeit ist am frühen Morgen oder in der Abenddämmerung. Dann ist man fast immer allein, und bei den Tieren ist ganz schön viel los. Die Roten Varis springen von Ast zu Ast und markieren lautstark ihre Präsenz. Zahlreiche Vögel und Flughunde werden wach (oder gehen schlafen) und füllen den Luftraum über den Baumwipfeln mit Leben.

Nicht nur ich geniesse den Masoala-Regenwald – auch viele unserer Gäste finden es hier richtig gut. So zählt er zu den beliebtesten Lebensräumen in unserem Zoo. Auch die Medien möchten immer wieder aus unserem Regenwald berichten. Allein in den letzten Wochen hatte Masoala einen prominenten Platz in einer Wissenschaftssendung auf RAI, und CH Media war für Filmaufnahmen vor Ort. Doch was macht unseren Masoala-Regenwald so spannend? Für mich persönlich ist er das perfekte Beispiel dafür, wie ein Zoo gleichzeitig seinen vier ideellen Zielen, Artenschutz, Bildung, Forschung und Naturschutz, gerecht werden kann.

Der Artenschutz für Tierarten aus Madagaskar ist dringlich, die Situation vor Ort schwierig – so sind die madagassischen Wälder zu über 90 Prozent abgeholzt und viele Tierarten vom Aussterben bedroht. Das trifft auch auf viele Tierarten in unserem Masoala-Regenwald zu. So kommt den europäischen Erhaltungszuchten von madagassischen Tieren, an denen sich der Zoo Zürich beteiligt, eine grosse Bedeutung zu. Zukünftig werden wir versuchen, noch mehr bedrohte Vogelarten aus Madagaskar bei uns aufzunehmen.

In unserer Bildungsarbeit versuchen wir, unsere Gäste für die Schönheit des Masoala-Regenwalds und seine tierischen Bewohner zu begeistern. Wir entführen unsere Gäste mitten in den Lebensraum, wo man ihn mit allen Sinnen erfahren soll. Man steht im Wald, sieht, riecht, fühlt und hört ihn. Man hat das Gefühl, dass sich so der echte Masoala-Regenwald anfühlt. Wenn es uns gelingt, mit dieser Begeisterung auf das Schützenswerte des Regenwalds aufmerksam zu machen, dann haben wir in unserer Bildungsarbeit viel erreicht.

Gleichzeitig ist unser Masoala-Regenwald ein idealer Ort, um ganz unterschiedliche Forschungsarbeiten durchzuführen und so unser Verständnis vom Wald und von seinen Bewohnern zu verbessern. Unsere Goodman-Mausmakis, eine Affenart, wurden als eigenständige Art erst bei uns beschrieben, und viele der Erkenntnisse über diese Affen stammen nicht aus Madagaskar, sondern vom Zürichberg. Die Entschlüsselung des Genoms unserer Riesenschildkröten hilft dem Schutz der Tiere vor Ort. Und die ETH testet ihre Drohnen, um später in tropischen Wäldern Proben zu sammeln, in unserem Regenwald. Dies ist nur eine kleine Auswahl an unterschiedlichen Projekten, die bei uns derzeit stattfinden.

Schliesslich ist unser Regenwald wie kein anderer Ort im Zoo mit unserem Naturschutzengagement verknüpft. Seit Jahrzehnten sind wir auf der Masoala-Halbinsel im Nationalpark und darüber hinaus aktiv. Wir finanzieren 25 Prozent des Budgets des Nationalparks und unterstützen neben Forschungsarbeiten zur Artenvielfalt insbesondere auch langfristige und grossflächige Aufforstungsbemühungen. Über 100'000 endemische Bäume werden pro Jahr gepflanzt, um der Entwaldung entgegenzuwirken. Doch Naturschutz funktioniert immer nur, wenn wir Menschen den Mehrwert sehen. Daher finanzieren wir weitere Projekte im Bildungsbereich und in der Landwirtschaft, um die Lebenssituation der lokalen Bevölkerung verbessern zu können. In diesen Wochen findet mit meinem Vorgänger Alex Rübel eine vom Zoo mitorganisierte Reise von Schweizerinnen und Schweizern nach Masoala statt, die nicht nur unser Naturschutzengagement unterstützt, sondern gleichzeitig auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Schutzbedürftigkeit dieser Region aufzeigen soll.

Wem die Reise nach Madagaskar zu lang ist, dem oder der reicht hoffentlich auch unser Masoala-Regenwald. Mit all diesen Aufgaben – Artenschutz, Bildung, Forschung und Naturschutz – steht er sinnbildlich für die Aufgaben moderner Zoos und bietet, wie gesagt, vom Turm einen phänomenalen Blick.

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