Dominic Beer: Wieso entstand beim Urknall mehr Materie als Antimaterie, obwohl die Natur immer einen Ausgleich schaffen will (z.B. Wärme fliesst von warm zu kalt)?
Joël Mesot: Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, das wird keine leichte Kost. Trotzdem bereit zum Weiterlesen? Warum das Universum so viel mehr Materie als Antimaterie enthält, ist nämlich eine der grossen offenen Fragen der modernen Physik. Unsere erfolgreichsten Theorien kommen hier an ihren Anschlag, und Forschende arbeiten seit Jahrzehnten daran, einer Antwort näher zu kommen.
Antimaterie besteht aus sogenannten Antiteilchen. Diese sind im Wesentlichen identisch zu ihren entsprechenden Teilchen, nur dass bestimmte Eigenschaften das umgekehrte Vorzeichen haben. Zum Beispiel besitzt, soweit wir wissen, ein Elektron die exakt gleiche Masse und dieselbe Ladungsstärke wie sein Antiteilchen, das Positron. Jedoch ist das Elektron negativ geladen und das Positron positiv. Gemäss etablierten Theorien entstehen Teilchen und Antiteilchen paarweise, und wenn sie aufeinandertreffen, dann werden ihre Massen komplett in Energie umgewandelt, in einem Prozess, der Annihilation (Vernichtung) genannt wird.
Beim Urknall hätten eigentlich Materie und Antimaterie in gleichen Anteilen entstehen und sich später wieder vernichten sollen. Vereinfacht gesagt sollten wir überhaupt keine Materie im Universum haben. Aber offensichtlich existiert Materie. Es muss also einen Mechanismus geben, der Materie und Antimaterie verschieden behandelt. Noch wissen wir jedoch nicht, was nach dem Urknall am Werk war.
Obwohl der Urknall rund 14 Milliarden Jahre zurückliegt und unvorstellbare Energien im Spiel waren, können wir Experimente und Beobachtungen machen, die uns auf die richtige Spur und zu einer Antwort führen könnten. Zum einen können wir heute noch einen «Nachhall» des Urknalls aufspüren, in Form der sogenannten kosmischen Hintergrundstrahlung. Aus solchen Messungen lässt sich etwa abschätzen, wie gross der relative Überschuss von Teilchen gegenüber Antiteilchen ist. Zudem können wir an Teilchenbeschleunigern wie dem LHC am Cern in Genf Vorgänge bei sehr hohen Energien im Detail untersuchen und so bestimmte Rückschlüsse ziehen, was unter den noch viel extremeren Bedingungen kurz nach dem Urknall vor sich gegangen sein könnte.
Schliesslich können wir auch bei sehr niedrigen Energien nach möglichen Mechanismen suchen, die gemäss theoretischen Modellen für die Asymmetrie zwischen Teilchen und Antiteilchen verantwortlich sind. Auch in diesem Gebiet betreibt die Schweiz Spitzenforschung, insbesondere am Paul Scherrer Institut in Villigen. Dort werden im Rahmen einer internationalen Zusammenarbeit mit höchstpräzisen Instrumenten grundlegende Eigenschaften von Neutronen – subatomare Teilchen, die ein Bestandteil fast aller Kerne sind – ausgemessen, mit einer Genauigkeit, die weltweit ihresgleichen sucht. Die neuste Generation dieser anspruchsvollen Experimente wird momentan gerade aufgebaut und sollte sogar noch präzisere Ergebnisse liefern.
Unter dem Strich kann ich Ihnen hier also keine Antwort auf Ihre Frage geben. Aber wir haben konkrete Ansätze, wie wir eines Tages auch diese Lücke in unserem Verständnis des Universums füllen werden. Genau dies macht Grundlagenforschung so spannend.
Mit bestem Dank an Prof. Klaus Kirch von der ETH Zürich und vom Paul Scherrer Institut für seinen wertvollen Input.