Müssen wie Religion und Politik auch Wissenschaft und Politik getrennt sein?
Martin Vetterli: Eine schwierige Frage, und es scheint mir fast unmöglich, sie in einer so kurzen Kolumne zu erörtern. Aber lassen Sie es mich versuchen!
Zunächst möchte ich Ihnen zustimmen, dass Religion und Politik getrennt werden sollten. Schauen wir uns aber einige der Gründe an, warum diese heute so offensichtliche Trennung ihren Weg in moderne Demokratien fand.
Der vielleicht einfachste Grund ist, dass eine Religion, wenn sie Einfluss auf Politik und Recht nähme, automatisch ihre eigenen Werte und Gläubiger bevorzugen würde. In den meisten Ländern existieren aber mehrere Religionen. Der fairste Weg, mit all den verschieden Religionen in einem Land umzugehen, ist es daher, keine zu bevorzugen, damit alle gleichberechtigt sind.
Ein ähnliches, aber etwas philosophischeres Argument stammt von John Locke, einem Philosophen aus dem 17. Jahrhundert. Er meinte, dass Regierungen in allen Dingen, die das individuelle Gewissen betreffen, keine Befugnisse haben, einschliesslich der Religionswahl der Bürger. Religion müsse demnach so weit weg vom Staat sein wie möglich, und möglichst nah am Individuum.
Natürlich gibt es viele andere Gründe, warum viele Nationen heute Religion von staatlichen Angelegenheiten trennen. Fairness und Glaubensfreiheit sind aber oft zentrale Überlegungen dabei. Übrigens, die Trennung ist je nach Land und Geschichte unterschiedlich stark ausgeprägt. Man denke zum Beispiel an Frankreich, das eine sehr strikte Trennung pflegt, während England an einer verfassungsmässigen Anerkennung der Staatsreligion festhält. In der Schweiz sind Kirche und Staat via Verfassung getrennt und garantieren die Glaubensfreiheit.
Kommen wir nun zur Trennung von Wissenschaft und Politik und sehen wir uns an, ob ähnliche Argumente zutreffen könnten. Die Wissenschaft ist keine Wahl und kein Glaube. Sie sieht sich als objektiv und sachlich. Wenn die Wissenschaft also eine aktive Richtschnur für die Politik wäre, würde dies kaum andere Formen der Wissenschaft untergraben, wie im Falle der Religionen. Eine Trennung von Wissenschaft und Politik ist in diesem Sinne also nicht wirklich notwendig. Doch dieses Argument scheint mir bei den Haaren herbeigezogen und gilt wohl bloss in Analogie zu den Religionen.
Man sieht schnell, dass die Frage sehr kompliziert ist. Und es wird wahrscheinlich noch viele Jahre dauern, wenn nicht Jahrhunderte, bis Philosophen, Politiker und Juristen hier zu einem Schluss kommen werden – wenn überhaupt.
Klar ist meines Erachtens aber, dass die Wissenschaft heute bei gewissen Themen einen politischen Einfluss hat. Ich denke dabei an Gesundheit, Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Ehe. Und dabei vertritt die Wissenschaft oft auch technik- und forschungsfreundliche Ansichten. Dies bloss in eigenem Interesse? Oder als sachliche und neutrale Unterstützung der Politik im Sinne einer grösseren Wahrheit?
Diese Fragen lasse ich Sie selber beantworten, denn diese Kolumne ist zu kurz dafür. Sicher ist meiner Meinung aber, dass die Schweiz eine Demokratie ist, keine Technokratie, und insofern ist der ultimative Souverän das Volk, nicht die wissenschaftliche Wahrheit. Diese kann den politischen Prozess bloss unterstützen.