Sie fragen, EPFL-Chef Martin Vetterli antwortet
Wie nachhaltig ist der Nobelpreis?

Joël Mesot, Martin Vetterli und Michael Hengartner sind so etwas wie die obersten Wissenschaftler der Schweiz. In ihrer Rubrik stellen sie sich den Fragen der Leserinnen und Leser rund um die Wissenschaft.
Publiziert: 13.07.2022 um 09:30 Uhr
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Aktualisiert: 10.07.2022 um 14:58 Uhr
Feierlich werden jedes Jahr die Nobelpreise in Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und für Friedensbemühungen vergeben.
Foto: AFP
Martin Vetterli

Warum wurden Wissenschaftler, die Dinge erfanden, deren Entsorgung heute grösste Schwierigkeiten machen, mit Nobelpreisen und anderen Ehrungen gewürdigt?

Martin Vetterli: Das ist eine gute Frage und trifft meines Erachtens den Kern der Probleme des modernen Fortschritts. In der Tat haben viele technische Erfindungen nämlich am Anfang Probleme gelöst, führten später aber zu neuen Problemen. Dennoch glaube ich, dass es mehrheitlich positive Fortschritte waren. Aber blenden wir kurz einen Schritt zurück und betrachten die letzten Jahrzehnte.

Vor über 20 Jahren hat die amerikanische Akademie für Ingenieurwissenschaften eine Liste der wichtigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Sie beinhaltet Erfindungen wie die Verbreitung der Elektrizität, die Entwicklung der Erdölindustrie (und damit auch die Verbreitung des Autos und den Bau von Autobahnen), die Erfindung von Radio, Fernsehen und des Internets sowie auch die Errungenschaften in der Kerntechnik oder in der Landwirtschaft. All diese Entwicklungen sind heute alltäglich. All diese Fortschritte wurden zu Lebzeiten unserer Eltern und Grosseltern eingeführt, und es steht wohl ausser Frage, dass sie unser Leben vereinfacht haben.

Dieselbe Akademie hat ironischerweise etwa zehn Jahre später eine weitere Liste veröffentlicht, diesmal mit den grössten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Darin findet man zum Beispiel Probleme wie die Entwicklung von Methoden zur Kohlenstoffbindung, die Verbesserung der städtischen Infrastruktur, die Verhinderung von Nuklearterror, die Sicherung des Cyberspace oder die Entwicklung besserer Medikamente.

Wenn man diese beiden Listen nun vergleicht, fällt frappant auf, dass viele der heutigen Herausforderungen in der Tat direkt aus den technischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts erfolgen. Die erdölbasierte Wirtschaft hat uns das Problem beschert, dass wir den Kohlenstoffausstoss nun kontrollieren müssen, um den Klimawandel zu bremsen. Die Nutzung der Nukleartechnologie hat zu der Herausforderung geführt, den Nuklearterrorismus zu verhindern. Die Ausbreitung der globalen Konnektivität mit dem Internet stellt uns heute vor die Herausforderung, den Cyberspace sicherer gestalten zu müssen, um Privatsphäre und Daten zu schützen. Die Luftfahrttechnik und das globale Transportsystem im Allgemeinen bedeuten, dass Infektionskrankheiten schneller als je von einem Ort auf dem Planeten zu einem anderen gelangen können – und somit Pandemien fördern.

Die Kritik und den Frust, die sich in der Leserfrage verbergen, kann ich also voll und ganz nachvollziehen – wenn nicht sogar teilen. Vielleicht vergessen wir manchmal einfach, dass Wissenschaftler auch bloss Menschen sind. Und als solche fällt es uns auch schwer, die langfristigen Konsequenzen unserer gut gemeinten Fortschritte zu antizipieren. Willkommene Fortschritte im Jetzt können auf lange Sicht zu neuen Problemen führen. Doch wie der französische Autor Jules Verne einmal sagte: «Die Wissenschaft ist voller Fehler, aber es ist nützlich, diese Fehler zu machen, denn sie führen nach und nach zur Wahrheit.» Hoffen wir bloss, dass unsere kurzsichtigen Irrtümer nicht nur zur Wahrheit führen, sondern auf lange Sicht auch zu dauerhaften und besseren Lösungen für die Menschheit.

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