Neulich habe ich einen neuen Roman nach Hause mitgebracht. Laut Klappentext handelt er von einer Gruppe älterer Frauen, lebenslanger Freundinnen, die mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen zu kämpfen haben. Ganz mein Ding also. Dachte ich. Doch dann starb am Ende des ersten Kapitels der Ehemann der Hauptfigur, an einem Herzinfarkt auch noch. Ich erkannte die Symptome schon Seiten im Voraus, dabei hatte der Klappentext nichts von Herzkrankheit gesagt, und schon gar nichts von Tod. Ich unterdrückte mein mulmiges Vorgefühl, ich beschwor die Hauptfigur, ihren Mann nicht die Treppe hochzuschicken, schon gar nicht mit dem schweren Koffer, doch sie erkannte die Zeichen nicht, sie höre nicht auf mich. Und ihr Mann starb. Mehr weiss ich nicht: Ich schmiss das Buch quer durchs Zimmer, und da liegt es heute noch, ein stummer Vorwurf, ein Mahnmal, ein Fragezeichen auch.
Meine heftige Reaktion erstaunte mich selbst am allermeisten. Schliesslich habe ich in den letzten Jahren ungefähr alles gelesen, was sich mit Tod und Trauer und dem Verlust eines geliebten Menschen befasst, von Joan Didion über Paul Kalanithi und Wolfgang Herrndorf bis Elizabeth Gilbert. Ich war besessen von dem Thema, gezwungenermassen, ich glaubte vielleicht, mich durch Lesen auf eine Situation vorbereiten zu können, die ich mir weder vorstellen konnte noch wollte. Zu wissen, dass andere diese Situation durchlebt und überlebt hatten, half mir. Ausserdem hatten Victor und ich ein Buch über den Tod geschrieben, das den Untertitel «Vom unbeschwerten Umgang mit dem Ende» trägt. Was zum Teufel war also in mich gefahren? Und vor allem: Warum jetzt? Jetzt, wo die akute Bedrohung zum ersten Mal ein wenig in den Hintergrund getreten ist. Wo sich Victor allen Prognosen zum Trotz erholt hat. Wo es ihm besser geht als in all den Jahren, die wir schon zusammen verbringen und von denen ohnehin jedes einzelne ein geschenktes ist.
Ein paar Tage später stolpere ich über einen Artikel, der mit den Worten begann, der Tod der Eltern sei das Schlimmste, was man sich vorstellen könne. Worte, die erneut eine komplett irrationale Reaktion auslöste. Immerhin schmiss ich meinen Laptop nicht durchs Zimmer. Dafür schrie ich den Bildschirm an: «Nein, das ist NICHT das Schlimmste! Das ist im Gegenteil ganz NORMAL!» Und dann brach ich in Tränen aus.
Und im selben Moment verstand ich: Ebenso normal, ebenso unausweichlich ist es, dass ein Partner vor dem anderen stirbt. Auch die grösste Liebe endet kaum je damit, dass beide im gleichen Moment sterben, wenn möglich sich noch an den Händen haltend. Und wenn einer von beiden schwer krank ist, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass dieser als Erster gehen und den anderen zurücklassen wird. Der Verlust ist unausweichlich. So wie der Verlust der Eltern, den ich keineswegs kleinreden will. Der Tod gehört zum Leben, Verlust gehört zur Liebe. Das weiss ich ja. Ich will mich nur jetzt nicht damit auseinandersetzen. Jetzt, wo der Tod sich für einen Moment abgewandt hat. Wo er uns diesen unerwarteten Aufschub gewährt.
Auf der Rückenlehne des blauen Sofas ist eine Stickerei ausgebreitet, die mir meine Freundin geschenkt hat. In kunstvoll verschnörkelter Schrift, mit Blumen und Vögeln verziert, steht da: «Die chönd mir doch all am Bürzi chnüble!» Ich lege meine Hand darauf, wie auf einen Talisman.