Schriftstellerin Milena Moser über das Leben
Das wahre Leben

Meine Kolumne über unser offenes Haus hat zum Teil heftige Reaktionen ausgelöst, vor allem bei Frauen. «Das würde mich komplett überfordern», sagen sie. Und ich verstehe sie nur zu gut: Genau so ging es mir doch auch!
Publiziert: 12.04.2021 um 07:35 Uhr
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Aktualisiert: 23.04.2021 um 15:58 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Auch der zweite Versuch, zu Ostern einen Zopf zu backen, scheiterte kläglich. Der erste hatte durch einen Umrechnungsfehler einen zementartigen Teigklumpen produziert. Das zweite Mal spielte mir der unberechenbare alte Gasofen einen Streich, der Zopf war halb roh und halb verkohlt. Frustriert wollte ich aufgeben, doch Victor fand, ich solle es doch noch einmal versuchen: «Alle freuen sich schon auf dein spezielles Swiss Bread!» Alle? Ich hätte es wissen müssen. «Wann kommen sie?», fragte ich. «Und wie viele?» Doch Victor war schon wieder verschwunden, und eigentlich war es auch egal. Der dritte Versuch gelang tatsächlich, auch wenn er rein optisch keine rechte Gattung machte. Von meinem Erfolg beflügelt, buk ich dann gleich noch eine Wildspargelquiche und eine Erdbeertarte, wobei ich immer noch über den Unterschied zwischen den beiden Begriffen nachdenke.

Diese Unbeschwertheit habe ich in den Jahren mit Victor entwickelt. Meist kocht er ja. Er ist ein wahrer Meister, doch es kommt durchaus vor, dass er ein Gericht verhaut, das er schon hundertmal zubereitet hat. «Ich hab die Carnitas verbrannt», erklärt er dann fröhlich und ohne eine Spur von Verlegenheit. «Aber die hier, aus der Taqueria an der Ecke, sind auch sehr gut.» Manchmal hat er noch nicht mal angefangen zu kochen, wenn die ersten Gäste erscheinen. Die werden dann zum Tortillapressen und Tamalesfüllen eingespannt, was sie immer mit grossem Vergnügen tun, und auch mit etwas Stolz: Sie haben Anteil an der Mahlzeit, am Prozess, an unserem Leben. Gastfreundschaft hat nicht mit Perfektion, sondern mit Grosszügigkeit zu tun. Mit der Bereitschaft, andere an unserem Leben teilhaben zu lassen. Den Stress, das habe ich irgendwann gemerkt, verursachen nicht die Gäste, sondern meine eigenen Ansprüche, meine Vorstellungen, meine mangelnde Bereitschaft, andere an meinem Leben teilhaben zu lassen.

Das habe ich allerdings schon lange, bevor ich Victor kannte, von meinen amerikanischen Freundinnen gelernt. Gleich bei der allerersten Einladung bei unseren Nachbarn. Da sass die ganze Familie gemütlich auf dem Sofa, im Fernsehen lief ein Ballspiel, und in der Küche stapelten sich die Pizzaschachteln. Ich gebe zu, meine erste Reaktion war Schock. Ich kam mir ziemlich blöd vor in meinem gebügelten Kleid, mit meinen Blumen und meinem Wein. Doch dann öffneten wir den Wein und assen die Pizza, die ganz anders war als die Pizza, die ich kannte, aber lecker. Und irgendwann war auch das Ballspiel zu Ende, und «der Pferdeflüsterer» begann. Die Jungs verzogen sich in ihr Zimmer, Mara und ich rutschten näher zusammen. Während der Werbepausen redeten wir über Gott und die Welt und unser Leben. Bevor der Abend zu Ende war, waren wir Freundinnen. Seither habe ich hier alle denkbaren Varianten von Essenseinladungen erlebt, von mehrgängigen Gourmetmenüs über kreuz und quer zusammenbestellte Lieblingsgerichte bis zu Absagen in letzter Minute. «Ich schaff es heute einfach nicht, sei mir nicht böse, ich bin kaputt.» Keine Ausreden, kein Verstecken der Auslieferkartons, kein Vorspiegeln einer perfekten Fassade. Kein Stress. Nur das Leben.

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