Professor Hengartner erklärt
Säen und Ernten – oder wem wir das Navigationsgerät verdanken

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft. Diese Woche: Wieso es Grundlagenforschung braucht.
Publiziert: 14.02.2021 um 09:48 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2021 um 15:49 Uhr
Michael Hengartner (53) ist Präsident des ETH-Rats und Kolumnist im SonntagsBlick Magazin. Zuvor war der Biochemiker Rektor der Universität Zürich.
Foto: Nathalie Taiana
Michael Hengartner

Kennen Sie Leonhard Euler? Er war auf den alten roten 10er-Noten abgebildet. Der gebürtige Basler lebte vor rund 250 Jahren und ist einer der berühmtesten und produktivsten Mathematiker aller Zeiten. Euler sass die meiste Zeit in seinem Studierzimmer und tüftelte an Zahlen und Formeln. Ganz besonders faszinierten ihn dabei Dinge, die sich bewegten. Konnte man etwas berechnen, das sich ständig veränderte? Euler konnte es.

Wo heute etwas in Bewegung ist, sind Eulers Formeln drin. Wenn man wissen will, wie die Müllabfuhr am effizientesten alle Strassen abfährt oder die SBB den idealen Fahrplan aufsetzen: Überall bringen uns Eulers Formeln ans Ziel. Und das, obwohl Euler keine Ahnung von Stadtreinigung oder den SBB hatte. Viel von Eulers Arbeit war, was wir heute Grundlagenforschung nennen. Also Forschung, die nicht auf einen direkten Nutzen ausgerichtet ist – doch später oft grossen Nutzen entfalten kann.

Wie lange es dauert, bis Wissen aus Grundlagenforschung angewendet werden kann, ist sehr unterschiedlich. Mein Lieblingsbeispiel ist die Elektrizität. Schon die Griechen kannten das Phänomen, zumindest in der Form statischer Elektrizität – also die Form, die Ihre Haare zum Stehen bringt. Aber damit liess sich kein Geld verdienen. Erst die zweite industrielle Revolution im 19. Jahrhundert brachte eine Vielzahl praktischer Anwendungen. Heute könnten wir uns ein Leben ohne Elektrizität kaum vorstellen.

Diese Geschichte wiederholt sich immer wieder. Dank Einsteins Relativitätstheorie haben wir heute satellitengesteuerte Navis, die Quantenmechanik gibt uns bald revolutionäre Quantencomputer.

Mündet Wissen aus Grundlagenforschung immer in nützlichen Anwendungen? Wohl kaum. Am Anfang ist Grundlagenforschung ein Ausdruck menschlicher Neugier: Wir forschen, weil wir wissen wollen, wie die Welt funktioniert. Manche sehen aufgrund dieser Tatsache Grundlagenforschung als ineffiziente Investition, bisweilen sogar als Geldverschwendung. Wäre es nicht besser, wenn wir uns auf die Entwicklung von gewinnbringenden Anwendungen fokussieren würden?

Nein, denn ohne Grundlagenforschung gibt es kaum neue, innovative Anwendungen. Es ist wie beim Säen im Frühling. Wir wissen nicht, welche Samen keimen werden und welche nicht. Wir wissen aber, dass wir im Herbst eine reiche Ernte erwarten dürfen, wenn wir genügend Samen säen und ihnen gute Rahmenbedingungen anbieten.

Eine Gesellschaft, die nur in anwendungsorientierte Forschung investiert, wäre ein wenig wie ein Bauer, der sich entscheidet, nur noch zu ernten und nicht mehr zu säen. Schliesslich sei ja einzig das Ernten profitabel; beim Säen habe man ja nur Kosten ... Langfristig geht diese Rechnung nicht auf.

Unsere Schweiz investiert stark in die Grundlagenforschung. Sie investiert damit in die Innovationen der Zukunft. Würde Euler heute zurückkommen, wäre er wohl doppelt stolz. Stolz, dass seine Formeln noch heute angewendet werden. Und stolz, dass viele junge Menschen ihn als Vorbild sehen und auch wissen wollen, wie die Welt funktioniert. Diese Neugier kommt am Schluss uns allen zugute.

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