Professor Hengartner erklärt
Ein Hoch auf die Vielfalt

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft. Diese Woche: Wieso Vielfalt immer besser ist.
Publiziert: 24.10.2020 um 15:09 Uhr
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Aktualisiert: 01.04.2021 um 14:15 Uhr
Michael Hengartner (53) ist Präsident des ETH-Rats.
Foto: Nathalie Taiana
Michael Hengartner

«Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus», so lautete ein Bestseller von Cris Evatt aus dem Jahre 2005. Dass Männer und Frauen nicht immer gleich ticken, ist eine Binsenweisheit, und es macht das Zusammenleben zwar interessant, aber nicht immer einfach. Aber warum gibt es überhaupt zwei Geschlechter? Die offensichtliche Antwort, «weil es für die Fortpflanzung immer zwei Geschlechter braucht», greift zu kurz. Denn es geht auch anders.

So beispielsweise bei gewissen Wasserflöhen, Seesternen oder Blattläusen. Oder bei diversen Krebsen, Eidechsen und Schlangen. All diese Arten bestehen nur aus Weibchen, die sich alleine fortpflanzen können.

Hormone täuschen Befruchtung vor

Wie diese «asexuelle Fortpflanzung» (auch Parthenogenese genannt, vom Griechischen «parthenos», Jungfrau, und «genesis», Entstehung) stattfinden kann, ist nicht in jedem Fall abschliessend geklärt. Manchmal schütten die Weibchen ein Hormon aus, das ihren Eiern eine Befruchtung vorgaukelt. Diese fangen dann tatsächlich an, sich zu teilen, und einige Tage, Wochen oder Monate später schlüpfen die Nachkommen. Parthenogenese hat durchaus Vorzüge: Weil die Partnersuche wegfällt, ist sie schnell und energiesparend. Zweitens können auch isolierte Einzeltiere sich vermehren. Und weil alle Individuen «Kinder kriegen» können (statt nur die Hälfte davon), kann die Population sehr schnell wachsen. Diese Eigenschaften sind zum Beispiel ein Vorteil, wenn ein neues Gebiet bevölkert werden soll.

Trotzdem gibt es sehr gute biologische Argumente für die zweigeschlechtliche Fortpflanzung.

Denn bei der asexuellen Fortpflanzung erhalten die Töchter logischerweise nur Gene von einem Elternteil. Sie sind daher oft mehr oder weniger Klone ihrer Mütter. Wir hingegen haben Gene von Vater und Mutter erhalten. Dabei wurden deren Eigenschaften gemischt. Wir sind anders als unsere Eltern, aber auch anders als unsere Geschwister – und diese Vielfalt stellt einen riesigen Vorteil dar. Weil wir so verschieden sind, haben es Krankheiten sehr viel schwerer, uns alle gleichzeitig dahinzuraffen – irgendeiner hat immer eine schützende Genkombination. Ausserdem können wir uns schneller an veränderte Umweltbedingungen anpassen, vorteilhafte Genmutationen können sich besser verbreiten, und die Ansammlung von Gendefekten ist deutlich geringer.

Gemischte Teams sind erfolgreicher

Kurzfristig kann die asexuelle Fortpflanzung also durchaus ein Vorteil sein, über lange Zeit scheint aber die Strategie mit zwei Geschlechtern – trotz allen damit verbundenen Schwierigkeiten – die aussichtsreichere zu sein.

Der Mehrwert von Vielfalt zeigt sich nicht nur bei einzelnen Tierarten, sondern auch bei ganzen Ökosystemen. So haben Forschungen gezeigt, dass Mischkulturen produktiver und stressresistenter sind als Monokulturen.

Ja sogar in unserer Gesellschaft ist Vielfalt – der Geschlechter, aber auch der Kulturen – eine Stärke. Gemischte Teams sind oft erfolgreicher als Teams, in denen alle denselben Hintergrund haben. Das setzt aber voraus, dass man sich mit dem Gegenüber auseinandersetzt.

Lasst uns also die Vielfalt der Schweiz pflegen. Sie ist eine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche gemeinsame Zukunft.

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