Professor Hengartner erklärt
Fallzahlen und exponentielles Wachstum

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft.
Publiziert: 24.12.2020 um 14:51 Uhr
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Aktualisiert: 01.04.2021 um 14:15 Uhr
Michael Hengartner (53) ist Präsident des ETH-Rats und Kolumnist im SonntagsBlick Magazin. Zuvor war der Biochemiker Rektor der Universität Zürich.
Foto: Nathalie Taiana
Michael Hengartner

Wie feiern Sie in diesem Jahr Weihnachten? Bei uns wird manches so sein wie immer: Wir gehen alle zusammen den schönsten Baum aussuchen, die Kinder schmücken ihn, die Katzen probieren, die Kugeln vom Baum zu fischen, und der Hund gibt den Katzen den Tarif durch. Anderes wird sein wie noch nie: Freunde und erweiterte Familie kommen nicht auf Besuch, das Weihnachtskonzert und das Singen an der Weihnachtsmesse fallen aus. Braucht es all das? Ja.

Noch vor kurzem schienen unsere Corona-Zahlen auf hohem Niveau einigermassen stabil – aber diese Stabilität trügt. Besonders gut weiss man das im Kanton Genf. Dort hatten sie im Herbst etwas höhere Fallzahlen als in anderen Kantonen. Nicht viel, aber eben doch. Als dann die Zahlen wieder zu steigen begannen, explodierten sie in Genf regelrecht: von ein paar Dutzend Fällen Anfang Oktober auf fast tausend neue Corona-Kranke pro Tag Anfang November. Seither sinken die Zahlen in Genf zum Glück wieder. Weil die Regierung strenge Massnahmen erlassen und die Bevölkerung sich an diese gehalten hat.

Zurzeit steigen in den meisten Deutschschweizer Kantonen die Fallzahlen zwar noch relativ langsam. Also alles kein Problem? Weit gefehlt. Denn falls wir in dasselbe exponentielle Wachstum geraten wie Genf, laufen die Dinge ganz schön schnell aus dem Ruder. Besonders gefährlich: Wir starten von einem viel höheren Niveau – und unser Gesundheitssystem ist schon jetzt am Anschlag.

Das Problem mit dem exponentiellen Wachstum ist, dass wir es nicht intuitiv verstehen. Das beste Beispiel ist – passend zu Weihnachten – der «Josephspfennig». Hätte Joseph vor 2000 Jahren einen Rappen auf ein Konto gelegt und hätte die Bank jedes Jahr einen Rappen dazugelegt, lägen heute 20 Franken auf dem Konto. Das ist lineares Wachstum. Hätte die Bank hingegen jedes Jahr ein Prozent Zins draufgelegt (und die Bruch-Rappen nicht abgerundet), lägen heute dank Zins und Zinseszins 4,4 Millionen auf dem Konto. Und hätte sie zwei Prozent Zinsen bezahlt, wären es heute mehr als 1,5 Billiarden!

Mit der Zeit wird der Unterschied zwischen einem und zwei Prozent Wachstum also riesig. Und auch für uns ist es entscheidend, wie hoch der «Zins» bzw. der R-Wert ist, also wie schnell sich das Virus verbreitet. Das ist der Grund, warum wir die Ansteckungsrisiken unbedingt minimieren müssen. Der Grund für Homeoffice, geschlossene Restaurants und Weihnachten im kleinen Kreis. Damit sich weniger Leute anstecken und das Gesundheitssystem nicht überlastet wird.

Wir werden uns an Weihnachten 2020 noch lange erinnern, also warum nicht etwas Besonderes daraus machen? Die Modelleisenbahn aus dem Keller holen und sich die Teller per Schiene hin- und herschicken? Die schon fast vergessene Geige oder Gitarre abstauben, die Klaviernoten aus dem Schrank nehmen und die Weihnachtsmelodien dann spielen statt singen? Und vielleicht am einfachsten: Wieso nicht endlich mal das bescheidene Fest machen, von dem man schon lange gesprochen hat?

Ich wünsche Ihnen nicht nur spezielle, sondern – trotz allem – speziell schöne Weihnachten. Und dass wir alle gesund bleiben!

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