Milena Moser
Weisse Seiten

Ich bin eine unverbesserliche Optimistin. Das zeigt sich unter anderem darin, dass ich mir eine Agenda für das nächste Jahr gekauft habe – obwohl ich nicht einen einzigen Termin einzutragen habe.
Publiziert: 13.12.2020 um 19:09 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2020 um 14:25 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow
Milena Moser

Weisse Seiten. Nichts als weisse Seiten. Ich blättere sie um und klebe hier und da schon mal einen Sticker ein. Einfach, damit sie nicht so nackt aussehen. Natürlich gibt es Dinge, die nächstes Jahr stattfinden. Mein jüngerer Sohn feiert Geburtstag, dann mein älterer. So wie es jetzt aussieht, werde ich aber genauso wenig dabei sein können wie an Weihnachten oder Neujahr. Berufliche Verpflichtungen? Was ist das?

Und so klebe ich ein Smileyface hier und ein Glitzerblümchen dort ein und denke: Habe ich früher nicht genau davon geträumt? Davon, nicht auf drei Jahre hinaus verplant zu sein? Tatsächlich kann ich mich an mehrere Situationen erinnern, in denen ich das ausgesprochen habe, mal lauter, mal unter Tränen: «Ich will einfach mal nichts vorhaben! Nichts als weisse Seiten in der Agenda!»

Ich war ausgebucht, im wörtlichen Sinn. Ausgelaugt von zu vielen Terminen, von zu vielen Reisen. Ich wünschte mir mehr Zeit für das, was ich für meine eigentliche Arbeit halte, das Schreiben. Ich wünschte mir, lange genug zu Hause bleiben zu können, um die Pflanzen blühen zu sehen, die ich als Setzlinge eingetopft hatte. Lange genug, um einen fortlaufenden Kurs zu besuchen, etwas Neues zu lernen, etwas, das nichts mit meiner Arbeit zu tun hatte. In meinen verwegensten oder abwegigsten Träumen strickte ich unförmige Pullover oder legte Gemüse ein.

Ha! Wie heisst es so schön? Vorsicht beim Wünschen, genau. Nein, ich bin nicht so abergläubisch oder selbstbezogen, dass ich mir einbilde, ich hätte die jetzige Situation mit meinen kleinen, privaten Wünschen herbeigeführt. Ich erinnere mich nur an sie. Sie helfen mir. Sie halten mich vom Jammern ab. Sie bringen mich dazu, über mich selbst zu lachen. Etwas, das man nicht oft genug tun kann.

Als ich vor ein paar Wochen tatsächlich mal drei Termine hatte, überschlug ich mich nämlich beinahe vor Begeisterung. Ich durfte an einem literarischen Festival in Mumbai teilnehmen, allerdings ohne dazu nach Indien zu reisen. Das Festival fand, wie alles andere auch, virtuell statt. Ich las, diskutierte und unterrichtete von meiner Wohnzimmercouch aus. Nur die Zeitverschiebung erinnerte daran, dass wir eben doch kein globales Dorf sind. Die Veranstaltungen fanden nämlich alle entweder mitten in der Nacht oder morgens um vier statt. Trotzdem war ich jedes Mal hellwach und so inspiriert, dass mich die Veranstalter am Ende höflich, aber bestimmt aus dem Chat kicken mussten. «Nichts für ungut, Miss Milena, aber die nächste Veranstaltung beginnt gleich …»

Jedes Mal.

Und ich war immer noch zu aufgeregt, um schlafen zu können. Das nennt man das «Performer's High», das Hochgefühl nach dem Auftritt. Früher verflog das meist irgendwo unterwegs auf einem zugigen Umsteigebahnhof. Jetzt weckte ich meinen Mann, um ihm die jeweilige Veranstaltung im Detail nachzuerzählen.

«Das hast du vermisst», stellte er fest.

«Ich hatte keine Ahnung, wie sehr», seufzte ich.

Ich glaube nicht, dass ich dieses Gefühl wieder vergessen werde. Dass ich es je wieder für selbstverständlich nehmen werde, arbeiten zu können. Ich glaube im Gegenteil, ich werde sogar für die zugigen Umsteigebahnhöfe dankbar sein. Bis es so weit ist, blättere ich die weissen Seiten um, die darauf warten, gefüllt zu werden. Wenn nicht mit Terminen, dann mit Wünschen und Träumen.

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