Milena Moser
Drama? Nein danke

Pandemie und Wirtschaftskrise, politischer Zusammenbruch und Endzeitstimmung – doch die Liebe lässt sich davon nicht beeindrucken. Oder aufhalten. Schon gar nicht bei meiner Freundin Vicky.
Publiziert: 07.12.2020 um 13:18 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2020 um 14:25 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Vielleicht erinnern Sie sich an meine Freundin und Nachbarin Vicky, die Ende Februar dieses Jahres mit Krebs diagnostiziert wurde, sich am selben Abend mit zwei Freundinnen in einer Bar traf, um sich Trost zuzutrinken, und stattdessen den Mann ihres Lebens kennenlernte. Nein, das habe ich nicht erfunden. So etwas würde ich gar nicht wagen. Solche Geschichten kann nur das Leben schreiben. Jeder Lektor, der diese Bezeichnung verdient, würde sagen: «Moser, was soll das denn nun wieder?»

Ganz nebenbei, das ist etwas, das ich seit dreissig Jahren mit den unterschiedlichsten Lektorinnen und Lektoren diskutiere. «Doch, doch», verteidige ich mich, «das ist durchaus möglich, so was passiert!» Ohne Erfolg. Mehr als ein Schicksalsschlag pro Person sei nun mal unrealistisch, heisst es immer. Ach ja? Ich wünschte, das Leben hielte sich auch an diese Regel! Doch das Leben mutet uns sehr viel mehr zu, im Guten wie im Schlechten, als wir Autoren unseren Figuren. Was zur Frage führt, ob das Leben nicht manchmal einfach ein gutes Lektorat bräuchte. Ich finde: dringend. Aber nicht im Fall von Vicky.

Die Liebe, die ihren Anfang in einer etwas heruntergekommenen Bar nahm und mit den Worten «Ich heisse Vicky und ich habe Krebs» begann, ist noch kein Jahr alt und hat einiges durchgemacht. Am selben Tag, an dem Vicky operiert wurde, wurde in San Francisco auch der erste Lockdown verhängt. All die Pläne, die sie mit ihren Freundinnen gemacht, die nahtlose Betreuung, die diese organisiert hatten, wurden auf einen Schlag null und nichtig. Vicky war allein. Erst im Spital und dann zu Hause. Doch da beschloss Chris, der neue Mann, zu ihr zu ziehen, sich um sie zu kümmern, die Behandlung und den Lockdown mit ihr gemeinsam durchzustehen. Da kannten sie sich gerade mal zwei Wochen.

Ihre Liebe überlebte Wundheilung, Chemotherapie und Bestrahlung mit allen damit verbundenen Nebenwirkungen. «Romantisch war es nicht gerade», seufzt Vicky in der Erinnerung. «Honeymoon ist anders!» In früheren Beziehungen habe sie sich in den ersten Phasen der Verliebtheit noch nicht mal ungeschminkt gezeigt, Chris hingegen musste ihre Glatze rasieren und das Spuckbecken halten. Eine Liebe, die das übersteht, kann nur richtig sein.

«Tja», sagt Vicky, «getrennt haben wir uns erst, als das alles ausgestanden war …»

«GETRENNT?» Fast spucke ich meinen Kaffee aus. Sie schiebt ihre Sonnenbrille hoch, sodass ich wenigstens ihre Augen sehen kann. Sie zwinkern.

«Reg dich mal wieder ab, die Trennung hat keinen Tag gedauert.»

Nach einem halben Jahr war ihre Behandlung abgeschlossen, die Übelkeit liess nach, die Sicherheitsbestimmungen wurden gelockert, und Vicky und Chris fuhren übers Wochenende aufs Land. «Endlich Honeymoon!» Und weils so schön war, fand Vicky, sie müssten heiraten. Hier und jetzt.

«Können wir nicht mal einfach nichts tun?», seufzte Chris. Was Vicky als «Er liebt mich eben doch nicht» interpretierte. Ihre Sachen packte und in die Stadt zurückfuhr. Dort holte Chris sie wenige Stunden später ein, und sie versöhnten sich.

«Ich hatte wohl einfach Angst vor dem Alltag», sinniert sie. «Bei uns gings ja immer um Leben und Tod.»

Doch Chris sagte: «Baby, das Leben ist doch Drama genug ...»

Ich seufze. Das hätte mir ja auch mal jemand sagen können. Ausser meiner Lektorin, meine ich.

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